Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1990

DIE FALSCHEN WEGE DER NEUEN ASYLPOLITIK
Gastkommentar in: imprimatur, nachrichten und kritische meinungen aus der katholischen Kirche, 23. jahrgang, nr. 8 – 24.12.1990, S.352-355

INHALT

DIE GROSSE KOALITION

Lafontaine hat die letzten Hemmungen beseitigt, die Flüchtlinge in der Bundesrepublik zu Sündenböcken und Wahlkampfgeiseln zu machen. Seine Ankündigung, mit der CDU/CSU zusammen Artikel 16 GG zu ändern, hat sich zwar bei der SPD (noch) nicht durchgesetzt, dafür aber die Diskussion über die Verschlechterung der Rechtslage unterhalb der Grundgesetzänderung in einer Art großen Koalition eingeleitet.

Lafontaines Sprache verrät ihn als Geistesverwandten von Späth und Stoiber, wie es der Landesparteitag der Saar-SPD am 1./2. September deutlich gemacht hat. Er hat eine Mehrheit hinter sich gebracht, die die Änderung des Grundgesetzes offenläßt. Zuvor hatte Lafontaine eine Rede gehalten mit der Forderung einer "notwendigen Einschränkung der mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylrechts Auch er spricht von einem "massenhaften Mißbrauch des Asylrechts" und warnt davor, durch Nichtstun "das Recht auf Asyl und die Akzeptanz dieses Rechts in der Bevölkerung zu verspielen.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rau hat am 13.8. einen 7-seitigen Maßnahmenkatalog gegen Flüchtlinge vorgelegt. Gefordert und angekündigt werden darin u.a.

  • die Verschärfung der Einreise- und Transitbestimmungen - weitere Verkürzung des Anerkennungsverfahrens
  • Verschärfung der Abschiebemöglichkeiten
  • Einrichtung von in anderen Ländern bereits vorhandenen Gemeinschaftsunterkünften,
  • Sozialhilfe nicht mehr in bar, sondern als Sachleistungen.und in Naturalien.

Man kann dies als die neue SPD-Linie bezeichnen. Sie unterscheidet sich von der CDU/CSU-Linie nur noch dadurch, daß bisher die Forderung nach genereller Kürzung der Sozialhilfe nicht unterstützt wird.

Nordrhein-Westfalen steht unter starkem Druck der Stadtregierungen von Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Köln und Wuppertal. Sie hatten sich an Rau gewandt, weil sie den sozialen Frieden in ihren Städten gefährdet sähen. Sie erwähnen Protestdemonstrationen der Bürger. Vielerorts bildeten sich Bürgerinitiativen, um die Unterbringung weiterer Menschen zu verhindern. Eine Betreuung der Flüchtlinge durch die Städte sei nicht mehr leistbar. Rumänische Roma entzögen sich jedem Kontakt zu Betreuungskräften. In der Bevölkerung wachse der Widerstand.

Lafontaine hat einen entscheidenden Schritt auf die große Koalition zu gemacht, der den gewissen Schutz, den die Flüchtlinge in SPD-geführten Ländern noch genossen, so gut wie beseitigt. Ebenso bedenklich ist aber die Auswirkung seiner Ankündigung in der Öffentlichkeit. Bis auf die Grünen, die allerdings ziemlich zurückhaltend sind, gibt es keine parteipolitische- Formation mehr, der der Schutz der am stärksten der Fremdenfeindlichkeit ausgesetzten Minderheit angelegen wäre.

DIE ENTSOLIDARISIERUNG IN DER GESELLSCHAFT

Dies ist eine neue Dimension der Entsolidarisierung, der parteipolitisch formierten Gesellschaft. Weder der DGB noch die Kirchen greifen engagiert genug in die Diskussion ein. Die auf Massenbasis gründenden Organisationen sind derzeit für eine Verteidigung der Menschenrechte der Flüchtlinge kaum oder nur schwach ansprechbar.

Auch dies ist etwas Neues, vergleichbar mit der ausgebliebenen Resonanz auf die Türkenfeindlichkeit anfangs der 80er Jahre, in der Struktur vergleichbar vielleicht mit dem Ausbleiben des Widerstandes gegen die Unterdrückung und Vernichtung der Juden. Wie wenig unsere Gesellschaft aus der Geschichte gelernt hat, wird an dem Verhalten der Politiker, der Behörden und der Bevölkerung gegen die Roma deutlich. Kaum treten Schwierigkeiten bei der Aufnahme dieser Zuwanderergruppe auf, brechen in Lebach (Saar), in NRW und anderswo Fremdenhaß und Vorurteile auf, wie sie seit Jahrhunderten genährt, auch zur Vernichtung dieser Menschen geführt hatten. In Lebach und Nordrhein-Westfalen haben wir es mit pogromartigen Stimmungen zu tun. Wenn in dieser Stimmung die CDU ein Volksbegehren gegen den Mißbrauch des Asyls fordert, sind wir auf dem besten Weg, an 1933 anzuknüpfen. Dieser Weg könnte in eine für Minderheiten aussichtslose und existenzbedrohende Lage führen. Rassenhysterie ist nicht mehr steuerbar. Sie verlangt - einmal politisch instrumentalisiert - nach der rigorosen Umsetzung ihres vernichtenden Begehrens, sie verlangt Führer, die wesentlich weiter rechts. als unsere rechten Demokraten die Exekution ihres Willens versprechen. Ein afrikanischer Psychologe sagte dieser Tage, aus einen Gespräch mit' Landsleuten in Europa habe sich ergeben, daß es überall in Europa Rassismus und Fremdenhaß gebe. Nur bei den Deutschen bestehe das ungute Gefühl, daß bei ihnen immer noch mehr dahinter sei. Ich traue vielen Deutschen, gerade auch vielen vereinigten Deutschen vom Nationalistischen gespeiste Vernichtungstendenzen zu.

Die Asylinitiativen sind in dieser Lage wie nie zuvor auf sich selbst zurückgeworfen; sie müssen allerdings auch feststellen, daß ihre Kraft nicht ausreicht, sich diesem Trend wirkungsvoll entgegenzustellen. Die Aktivitäten und Stellungnahmen bekommen immer mehr den Charakter verzweifelter Intervention. Dies kann zu lähmender Depression oder zu verbal wild um sich schlagender Aggression führen.

Die Bundesrepublik nähert sich in ihrem Verhalten gegen Flüchtlinge immer mehr dem menschenrechtsverletzenden Niveau der Ländern, aus. denen Menschen in die Bundesrepublik flüchten. D.h. die Abschreckungs-, Abwehr- und Ausweisungsmaßnahmen gewinnen einen ähnlichen Charakter wie der Vertreibungsdruck gegen Menschen und Minderheiten in den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge.

Nach meiner Erfahrung halten 95 % der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik die abgelehnten Asylbewerber für Menschen, die nur aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik gekommen sind. Deswegen ist auch der Widerstand gegen sie so groß. Das öffentliche Trommelfeuer gegen Flüchtlinge und die einseitige Herausstellung der Aufnahme von Aus- und Übersiedlern als nationale Aufgabe haben ihre Wirkung getan. Daß für die Aufnahme vieler hunderttausender Menschen die Infrastruktur, vor allem im Hinblick auf das Wohnen nicht ausreicht und die vorhandene Wohnungsnot in den. Ballungsgebieten das Wohnen für alle Wohnungssuchenden unerschwinglich und fast unmöglich macht, daß ein zusammengebrochener bzw. aufgegebener sozialer Wohnungsbau diese Defizite verstärkt hat, muß als ein gravierendes gesellschaftliches Defizit verstanden werden. Hierbei läuft der, bekannte Mechanismus ab, daß dieses Defizit nicht den Mächtigen und ihrem Versagen angelastet und diese nicht in die Wüste geschickt werden, sondern daß man es bei denen festmacht, die wie die Flüchtlinge selbst zum großen Teil nicht einmal Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt sind, weil sie in Wohnlagern, ehemaligen Kasernen, Schulen und abgetakelten Pensionen untergebracht sind, die für keinen deutschen Durchschnittsbürger als Wohnung anfrage kämen. Das eben gehört auch zu einer Abschreckungspolitik, die seit 13 Jahren damit rechnet, daß man durch einschränkende und diskriminierende Maßnahmen Menschen davon abhalten könnte, nach Deutschland zu kommen. Abgeschreckt werden aber nur die Einheimischen, die in der abwertenden Unterbringung von Flüchtlingen in ihrer Abwehr gegen diese bestärkt werden. Wer jetzt sogar Zelte für die Unterbringung von Flüchtlingen aufstellt, signalisiert deutlicher als bisher nicht nur die mangelnde Bereitschaft überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, sondern die Absicht, die Flüchtlinge zu Sündenböcken des, Wohnungsnotstandes zu machen und damit der Aggression der Bevölkerung auszusetzen.

EINE UNZULÄNGLICHE DISKUSSION

Wir haben uns zu lange eine Diskussion um den längst ausgehöhlten Artikel 16 GG aufdrängen lassen. Dies war unerläßlich, weil wir mit der Verteidigung dieses Artikels einen der wichtigsten Versuche der Nachkriegsgeschichte auf ein individuell abgesichertes Asylrecht, aber auch eine der wichtigsten Versuche, unsere. Geschichte aufzuarbeiten, verteidigten. Dies bleibt nach wie vor eine Aufgabe, für die wir auch eine parteipolitische Unterstützung bei den Grünen und bei der Mehrheit von FDP und SPD haben.

Wir dürfen uns dabei aber nicht mit der Verteidigung einer Rechtsruine begnügen, sondern müssen die Auffüllung und Ausweitung der Anwendung dieses Grundrechts im Sinne der Eltern unserer Verfassung zu erreichen suchen. Auch sollten wir diesen Artikel als Grundlage eines neuen europaweiten Asylrechts betrachten.

Die Zuwanderung und Zuflucht in die westlichen Demokratien, beziehungsweise in die reicheren und auch freieren Länder dieser Hemisphäre wird so lange weitergehen, wie es das Freiheits- und Wirtschaftsgefälle in der Welt gibt. Dabei handelt es sich um eine Bandbreite von Zuwanderungsgründen, die von der vorrangigen Arbeitssuche bis zur unmittelbaren Flucht aus politischen Gründen reicht. Die Übergänge sind fließend und machen es uns deswegen so schwierig, in dem Hauptfeld der flüchtenden Menschen den Zuwanderer aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen von dem sogenannten echten Flüchtling zu unterscheiden.

Es gehört zu den wichtigen Erkenntnissen, die wir zu vermitteln hätten, daß Artikel 16 auch bei großzügigerer Auslegung nicht ausreicht, um die Aufnahmeverpflichtungen der Bundesrepublik zu umschreiben. Weitere Grundgesetzartikel, die Genfer Flüchtlingskonvention und der bisherige §14 des Ausländergesetzes gehören ebenso dazu vie die Menschenrechtskonvention, die Anti-Folter-Konvention und die erst kürzlich unterzeichnete Kinder-Konvention.

Es ist uns allen deutlich geworden, daß wir Menschen vor der Ausweisung zu schützen haben, die nicht mehr unter die klassischen Flüchtlingsdefinitionen fallen, von denen wir aber überzeugt sind, daß eine Ausweisung eine Bedrohung ihrer Menschenwürde, wenn nicht sogar ihrer Existenz bedeutet.

Wir müßten an der Stelle, geistig, politisch und psychologisch weiter arbeiten wo das Europäische Parlament steckengeblieben ist, als es eine zeitgemäßere Umschreibung dessen verlangt hat, wer als Flüchtling zu gelten hätte.. Wir haben dies nicht aufgegriffen und. damit eine, wichtige Aufgabe außerachtgel:assen. Das wirkt sich in der augenblicklichen Situation sehr nachteilig aus.


Gastkommentar in: imprimatur, nachrichten und kritische meinungen aus der katholischen Kirche, 23. jahrgang, nr. 8 – 24.12.1990, S.352- 355