Die anstehende Diskussion
Während die Anerkennungsquote für Flüchtlinge sinkt, steigt die Zahl der Asylbewerber. Artikel
16 Grundgesetz, der dem politischen Flüchtling das Recht auf Asyl einräumt, ist nur noch eine
Ruine. Aber auch diese Ruine soll durch den Sturmangriff einer großen Koalition, die sich die
sogenannte Harmonisierung des Asylrechts in der Europäischen Gemeinschaft zunutze machen will,
geschleift werden. Die Verteidiger kämpfen verzweifelt um die Erhaltung eines Grundrechts und
seine sinngemäße Anwendung, weil mit einem Gesetzesvorbehalt nicht nur dem Artikel 16 des Grundgesetzes
der Garaus gemacht, sondern eine bedenkliche Vergangenheits-bewältigung betrieben wird. Die Bundesrepublik
versucht, sich damit einer historischen Verpflichtung zu entziehen, die nach der Schreckensherrschaft
Hitlers für alle Zeiten auf Deutschland liegt.
Neben der Verteidigung des Grundrechts auf politisches
Asyl ist die Diskussion über eine Erweiterung und Vertiefung der
Definition des Flüchtlings überfällig und bei genauerem Zusehen längst
im Gange. Ja, sie hat bereits zu theoretischen und politischen
Ergebnissen geführt, deren allgemeine Übertragung auf die Ebene der
Vereinten Nationen allerdings noch aussteht. Dabei darf man sich durch
die notwendige Verteidigung der durch das Grundgesetz und die Genfer
Konvention erreichten Standards nicht davon verleiten lassen,
weitergehende Erfordernisse als illusionär oder utopisch einzuordnen.
So fordert ein interministerielles Asylkonzept der schwedischen
Regierung aus dem Jahre 1990 von der nationalen und internationalen
Gesetzgebung weitere Möglichkeiten für die Aufnahme von Flüchtlingen
und „anderen schutzwürdigen Personen", da die Genfer Konvention für die
heutige Wirklichkeit zu eng gefaßt sei. In der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung um
einen angemessenen Flüchtlingsbegriff noch nicht geführt worden. Zu
sehr hat der Kampf zur Wahrung des Rechts- und Lebensschutzes für
Asylbewerber und de-facto-Flüchtlinge auf der Grundlage des geltenden
Rechts Kraft und Aufmerksamkeit beansprucht. Jetzt setzt sich aber mehr
und mehr die Erkenntnis durch, daß diese Grundlagen - immer
eingeschränkter zur Verfügung stehend - nicht mehr ausreichen, vor
allem nicht mehr ausreichen, um maßgebend in den politischen Diskurs
einzugreifen. Dieser wird geprägt von der Vorstellung der noch 5 %
anerkannten Flüchtlinge und der 95 % Wirtschaftsflüchtlinge. „Mental"
hat sich in den Köpfen der mit Flüchtlingen solidarischen Menschen und
Gruppen dies als Ausgangsbasis ihrer Interventionen so festgesetzt, daß
die Abwehr nur unter diesen Prämissen geführt wird.
 PRO ASYL-Plakat
zum
Tag des Flüchtlings. 4. Oktober 1991
Das Europäische Parlament hatte in seiner Entschließung zu den Fragen des Asylrechts vom
12.3.1987 darauf hingewiesen, daß sich die Ursachen für Flucht seit
Abschluß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verändert hätten und
die Definition des Flüchtlingsbegriffs daher einem Wandel unterliegen
müsse. Deswegen sollte die Europäische Gemeinschaft die Initiative zur
Ausarbeitung eines Vorschlags einer neuen Definition des
Flüchtlingsbegriffs ergreifen. In diesem Zusammenhang gibt es den
ausdrücklichen Hinweis auf die Flüchtlingsdefinition der Organisation
für Afrikanische Einheit (OAU). Sie wäre demnach eine wichtige
Orientierung für eine Vorstellung von der erweiterten Schutzwürdigkeit
flüchtender Menschen.
Krieg und Bürgerkriege
Der erweiterte Flüchtlingsbegriff der OAU stammt bereits aus dem Jahre
1969 und ist geprägt von den Fluchtbewegungen des afrikanischen
Kontinents. Der Begriff des Flüchtlings soll nach der OAU-Konvention
über die Genfer Konvention hinaus „auf jede Person Anwendung finden,
die wegen Aggression von außen, Besetzung, Fremdherrschaft oder
aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung in einem Teil
des Landes oder dem gesamten Land ernsthaft stören, gezwungen ist, den
Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu verlassen, um an einem anderen
Ort außerhalb ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit Zuflucht zu
suchen". Entscheidend an dieser Umschreibung des Flüchtlings
dürfte das erweiterte Verständnis von politischer Krise sein, die zur
Flucht zwingt. Danach sind Kriege, Bürgerkriege, ja sogar
Stammesfehden, überhaupt bedeutsame Störungen der öffentlichen Ordnung
hinreichend genug, um einen Menschen, der davor flüchtet, als
Flüchtling anzusehen und zu schützen. Wenn der Entwurf zur Asyl-Entschließung des
EG-Parlaments noch davon spricht, daß die aktuellste und genaueste
internationale Definition eines Flüchtlings die der OAU sei, wird es
notwendig, diese aus ihrem afrikanischen Kontext zu lösen und eine
Allgemeingültigkeit zuzugestehen.
Verletzung der Menschenrechte
Im gewissen Sinn ist dies bereits geschehen, wenn man die sogenannte
Erklärung von Cartagena aus dem Jahre 1984 anschaut. Vertreter von zehn
lateinamerikanischen Regierungen hatten unter spezifischer
Berücksichtigung der Probleme gerade der mittelamerikanischen Region zu
einem Flüchtlingsbegriff gefunden, der dem der OAU sehr ähnlich ist.
Danach sollen in die Definition eines Flüchtlings auch Menschen
einbezogen werden, die „aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil ihr
Leben, ihre Sicherheit oder ihre Freiheit bedroht waren von Gewalt im
allgemeinen, Angriffen von außen, Konflikten im Land selbst, schweren
Verletzungen der Menschenrechte oder anderen Umständen, durch die die
öffentliche Ordnung gestört war". Wichtig an dieser Erklärung ist ihre inhaltliche Nähe
zur OAU-Resolution, insofern dies als Beleg dafür gelten kann, daß es
bereits eine geistige und politische Kontinuität für einen erweiterten
Flüchtlingsbegriff gibt, und eine prinzipielle Übertragbarkeit
zumindest auf eine andere Region mit anderen politischen Gegebenheiten
durchaus möglich ist. Dies wäre bereits neben dem, was im Vorfeld der
Brüsseler Erklärung formuliert wurde, eine wichtige Voraussetzung für
eine weltweite bzw. UN-weite Übernahme. Davon abgesehen ist mit
Cartagena erneut eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs vorgenommen
worden, insofern anerkannt wird, daß schwere Verletzungen der
Menschenrechte auch einen Flüchtlingsstatus begründen können.
Regionalisierung
Das Exekutivkomitee des UNHCR verabschiedete auf seiner 36.Sitzung eine
Resolution zum Flüchtlingsproblem in Lateinamerika und zur Erklärung
von Cartagena, die als ein regionaler Ansatz für die Lösung begrenzter
Flüchtlingsströme begrüßt wurde. Auch die Parlamentarische Versammlung
des Europarates hat in einer Entschließung zur „Migration und zu
Flüchtlingsbewegungen in Lateinamerika vom 8.5.1987 die Bedeutung der
Prinzipien und Empfehlungen in der Erklärung von Cartagena aus dem
Jahre 1984 zur Lösung der Flüchtlingsprobleme in Lateinamerika" betont.
In beiden Fällen ist erkennbar, daß man noch sehr bemüht ist, Cartagena
zwar in seiner grundsätzlichen Bedeutung zu erkennen und zu werten, daß
aber gleichzeitig der Versuch unternommen wird, Cartagena zu
„regionalisieren". Dies dürfte, wie die Entwicklung lehrt und die
weltweiten Erfordernisse belegen, ein letztlich untauglicher Versuch
sein, an einer neuen, universal gültigen Definition vorbeizukommen.
Neue Ansätze
Dadurch, daß die Grünen nicht mehr im Bundestag sind, dürfte auch die
von ihnen 1988 in einem Antrag enthaltene Asyl-Definition kaum noch
diskussionswürdig sein. Danach sollten folgende Situationen ein Recht
auf Asyl begründen: „Völkermord, Bürgerkrieg, Krieg, Verfolgung aus
ethnischen und religiösen Gründen, Verfolgung auf sexueller und-
geschlechtsspezifischer Basis, wirtschaftliche und soziale Not und
Ausweglosigkeit, Menschenrechtsverletzungen und Folter. Hinter dieser Umschreibung steckt die Vorstellung, daß
Menschen nur aus sehr ernsten Gründen ihre Heimat verlassen und eine
ungerechte Weltwirtschaftslage die letzte Verantwortung für die
Wanderungs- und Fluchtprozesse sind. Sie akzeptierte eine Zuwanderung
und Zuflucht in die Bundesrepublik, bei der die Menschen das Recht auf
Aufnahme nicht in einem fast zur Farce degenerierten
Anerkennungsverfahren suchen müßten. Ihr Kommen aus den Kriegs- und
Krisenregionen der Welt wäre die ausreichende Legitimation. Diese Auffassung wird im gewissen Sinne vom
Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit gedeckt. 23 Wissenschaftler aus den verschiedensten
Disziplinen haben 1989 ein kaum zur Kenntnis genommenes „Memorandum"
zur Weltflüchtlingsproblematik vorgestellt. Darin wird die gängige
Unterscheidung zwischen „politischen" Flüchtlingen,
„Armutsflüchtlingen", „Umweltflüchtlingen" und
„Wirtschaftsflüchtlingen" für problematisch erachtet. Denn gerade die
Dialektik von politischer Gewalt und Mißachtung von Menschenrechten
einerseits und ökonomisch-sozialen Problemen andererseits sei nur allzu
bekannt. Von dieser Einschätzung scheint auch die
Flüchtlingskonzeption der Bundesrepublik Deutschland vom 25. September
1990 beeinflußt zu sein, wenn die Ursachen der Fluchtbewegungen als
weitgehend identisch mit den großen politischen Fragen unserer Zeit
betrachtet werden, nämlich: „Wirtschaftliche Unterentwicklung und
Überbevölkerung, ökologische Krisen, Menschenrechtsverletzungen,
Intoleranz, Gewaltanwendungen, Krieg und Bürgerkrieg". An anderer
Stelle werden neben den politischen und ethnologischen Konflikten
zwischen den Entwicklungsländern die Vernichtung von Lebensraum durch
Raubbau an der Natur genannt. In der genannten schwedischen Asylskizze wird
festgestellt, daß der Begriff „Flucht" seine bisherige Prägnanz
verloren habe:
„Unsere Konvention von 1951 definiert Flüchtlinge als Personen,
die vor politischer Unterdrückung geflohen sind. Heute sind die Fluchtgründe viel komplexer. Schutzbedürftig
sind nicht mehr nur politisch Verfolgte, sondern auch all jene, die vor Kriegen, Bürgerkriegen
oder inneren Unruhen fliehen, und Menschen, die versuchen, einer Dürre, einer Umweltkatastrophe,
einer Hungersnot oder einfach dem allgemeinen Elend zu entkommen."
Sadako Ogata, Hohe Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen, UNHCR,
zitiert nach Die Zeit, 11 4. 1991
„Von den Flüchtlingen der Welt flieht heute nur ein kleinerer
Prozentsatz aufgrund einer direkt gegen sie gerichteten Verfolgung oder
der Androhung einer solchen. Die meisten fliehen als ein Teil einer
Massenbewegung, infolge von Krieg und/oder internen bewaffneten
Konflikten. " Einen wichtigen Schritt weiter geht die Analyse, wenn
sie zwischen den unmittelbaren und zugrunde liegenden Fluchtursachen
unterscheidet. Die unmittelbaren Ursachen von Massenflucht würden im
allgemeinen als politische Umwälzungen oder militärische Gewalt
angegeben. Zugrunde lägen jedoch oft eine Verarmung der Naturressourcen
und deren Möglichkeit, die Bevölkerung zu versorgen. D.
h. also, daß hier der immer schärfer werdende Verteilungskampf
beschrieben wird, der von den ökologischen Katastrophen zu politischer
Unterdrückung führt. Der „Umweltflüchtling" wäre demnach auch im
Zusammenhang mit schnell wachsenden Bevölkerungen der künftig
vorherrschende Typ des „politischen" Flüchtlings. Die letzten Dokumente belegen, daß, wer sich ernsthaft
mit den Hintergründen erzwungener Wanderung befaßt, zu einer komplexen
Sicht gelangt, die weder simple Einteilungen zuläßt noch bisherige
Rechtsgrundlagen für ausreichend halten kann. Es sollte wichtigster
Ausgangspunkt eines möglichst rationalen Diskurses sein, daß Flucht ein
Phänomen länder- und regionenübergreifender Migrationsprozesse ist, bei
denen es ein weites Spektrum von Zwangsphänomenen gibt, die vom
ökonomischen und ökologischen Überlebenskampf bis zur politisch
gewollten Unterdrückung oder Vernichtung eines einzelnen, einer
Minderheit oder eines Volkes reichen. Allerdings stellt sich bei dieser Betrachtung unter
neuen Vorzeichen die alte Frage, wer dann jetzt als Flüchtling
anerkannt oder abgelehnt wird. Ja, es erhebt sich gerade bei den
Verteidigern des Rechts auf Asyl die ernste Sorge, daß bei einer
Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs der bisher noch mögliche, sicher zu
eingeschränkte Schutz von Flüchtlingen wegen des dann wesentlich
größeren Personenkreises, der Aufnahme in einem Zufluchtsland begehren
könnte, vollends gefährdet werde. Dies hänge mit der sicher sinkenden
Bereitschaft der Aufnahmeländer zusammen, sich größeren
Flüchtlingszahlen gegenüber offenzuhalten.
Diesem Dilemma ist aber nicht
dadurch zu entkommen, daß an den bisherigen Rechtsinstrumenten mit
ihren Einschränkungen festgehalten wird. Vielmehr geht es darum, sie
sowohl zu stabilisieren als auch sie auszubauen und gegebenenfalls zu
ergänzen. Dazu ist aber eine intensive geistig-politische Diskussion
auf der Experten-Ebene zu führen. Sie ist möglichst bald in den
politischen Diskurs überzuleiten. Nur dadurch kann der Boden dafür
bereitet werden, daß auf Regierungsseite und bei internationalen
Gremien etwas in Bewegung gerät. Vielleicht hat aber die Flüchtlings-Solidarität noch
nicht realisiert, wie weit der politische Diskurs bereits
fortgeschritten ist.
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