Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL
1991

Die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs

veröffentlicht im Heft von PRO ASYL
zum Tag des Flüchtlings am 4. Oktober 1991
"Fluchtursachen bekämpfen - Flüchtlinge schützen" SS. 12-14

INHALT
Neben der Verteidigung des Grundrechts auf politisches Asyl ist die Diskussion über eine Erweiterung und Vertiefung der Definition des Flüchtlings überfällig und bei genauerem Zusehen längst im Gange. Dabei darf man sich nicht davon abhalten lassen, weitergehende Erfordernisse als illusionär oder utopisch einzuordnen.

Die anstehende Diskussion

Während die Anerkennungsquote für Flüchtlinge sinkt, steigt die Zahl der Asylbewerber. Artikel 16 Grundgesetz, der dem politischen Flüchtling das Recht auf Asyl einräumt, ist nur noch eine Ruine. Aber auch diese Ruine soll durch den Sturmangriff einer großen Koalition, die sich die sogenannte Harmonisierung des Asylrechts in der Europäischen Gemeinschaft zunutze machen will, geschleift werden. Die Verteidiger kämpfen verzweifelt um die Erhaltung eines Grundrechts und seine sinngemäße Anwendung, weil mit einem Gesetzesvorbehalt nicht nur dem Artikel 16 des Grundgesetzes der Garaus gemacht, sondern eine bedenkliche Vergangenheits-bewältigung betrieben wird. Die Bundesrepublik versucht, sich damit einer historischen Verpflichtung zu entziehen, die nach der Schreckensherrschaft Hitlers für alle Zeiten auf Deutschland liegt.

Neben der Verteidigung des Grundrechts auf politisches Asyl ist die Diskussion über eine Erweiterung und Vertiefung der Definition des Flüchtlings überfällig und bei genauerem Zusehen längst im Gange. Ja, sie hat bereits zu theoretischen und politischen Ergebnissen geführt, deren allgemeine Übertragung auf die Ebene der Vereinten Nationen allerdings noch aussteht. Dabei darf man sich durch die notwendige Verteidigung der durch das Grundgesetz und die Genfer Konvention erreichten Standards nicht davon verleiten lassen, weitergehende Erfordernisse als illusionär oder utopisch einzuordnen. So fordert ein interministerielles Asylkonzept der schwedischen Regierung aus dem Jahre 1990 von der nationalen und internationalen Gesetzgebung weitere Möglichkeiten für die Aufnahme von Flüchtlingen und „anderen schutzwürdigen Personen", da die Genfer Konvention für die heutige Wirklichkeit zu eng gefaßt sei.

In der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung um einen angemessenen Flüchtlingsbegriff noch nicht geführt worden. Zu sehr hat der Kampf zur Wahrung des Rechts- und Lebensschutzes für Asylbewerber und de-facto-Flüchtlinge auf der Grundlage des geltenden Rechts Kraft und Aufmerksamkeit beansprucht. Jetzt setzt sich aber mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß diese Grundlagen - immer eingeschränkter zur Verfügung stehend - nicht mehr ausreichen, vor allem nicht mehr ausreichen, um maßgebend in den politischen Diskurs einzugreifen. Dieser wird geprägt von der Vorstellung der noch 5 % anerkannten Flüchtlinge und der 95 % Wirtschaftsflüchtlinge. „Mental" hat sich in den Köpfen der mit Flüchtlingen solidarischen Menschen und Gruppen dies als Ausgangsbasis ihrer Interventionen so festgesetzt, daß die Abwehr nur unter diesen Prämissen geführt wird.


PRO ASYL-Plakat zum
Tag des Flüchtlings. 4. Oktober 1991

Das Europäische Parlament hatte in seiner Entschließung zu den Fragen des Asylrechts vom 12.3.1987 darauf hingewiesen, daß sich die Ursachen für Flucht seit Abschluß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verändert hätten und die Definition des Flüchtlingsbegriffs daher einem Wandel unterliegen müsse. Deswegen sollte die Europäische Gemeinschaft die Initiative zur Ausarbeitung eines Vorschlags einer neuen Definition des Flüchtlingsbegriffs ergreifen. In diesem Zusammenhang gibt es den ausdrücklichen Hinweis auf die Flüchtlingsdefinition der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU). Sie wäre demnach eine wichtige Orientierung für eine Vorstellung von der erweiterten Schutzwürdigkeit flüchtender Menschen.

Krieg und Bürgerkriege

Der erweiterte Flüchtlingsbegriff der OAU stammt bereits aus dem Jahre 1969 und ist geprägt von den Fluchtbewegungen des afrikanischen Kontinents. Der Begriff des Flüchtlings soll nach der OAU-Konvention über die Genfer Konvention hinaus „auf jede Person Anwendung finden, die wegen Aggression von außen, Besetzung, Fremdherrschaft oder aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung in einem Teil des Landes oder dem gesamten Land ernsthaft stören, gezwungen ist, den Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu verlassen, um an einem anderen Ort außerhalb ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit Zuflucht zu suchen".

Entscheidend an dieser Umschreibung des Flüchtlings dürfte das erweiterte Verständnis von politischer Krise sein, die zur Flucht zwingt. Danach sind Kriege, Bürgerkriege, ja sogar Stammesfehden, überhaupt bedeutsame Störungen der öffentlichen Ordnung hinreichend genug, um einen Menschen, der davor flüchtet, als Flüchtling anzusehen und zu schützen.

Wenn der Entwurf zur Asyl-Entschließung des EG-Parlaments noch davon spricht, daß die aktuellste und genaueste internationale Definition eines Flüchtlings die der OAU sei, wird es notwendig, diese aus ihrem afrikanischen Kontext zu lösen und eine Allgemeingültigkeit zuzugestehen.

Verletzung der Menschenrechte

Im gewissen Sinn ist dies bereits geschehen, wenn man die sogenannte Erklärung von Cartagena aus dem Jahre 1984 anschaut. Vertreter von zehn lateinamerikanischen Regierungen hatten unter spezifischer Berücksichtigung der Probleme gerade der mittelamerikanischen Region zu einem Flüchtlingsbegriff gefunden, der dem der OAU sehr ähnlich ist. Danach sollen in die Definition eines Flüchtlings auch Menschen einbezogen werden, die „aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder ihre Freiheit bedroht waren von Gewalt im allgemeinen, Angriffen von außen, Konflikten im Land selbst, schweren Verletzungen der Menschenrechte oder anderen Umständen, durch die die öffentliche Ordnung gestört war".

Wichtig an dieser Erklärung ist ihre inhaltliche Nähe zur OAU-Resolution, insofern dies als Beleg dafür gelten kann, daß es bereits eine geistige und politische Kontinuität für einen erweiterten Flüchtlingsbegriff gibt, und eine prinzipielle Übertragbarkeit zumindest auf eine andere Region mit anderen politischen Gegebenheiten durchaus möglich ist. Dies wäre bereits neben dem, was im Vorfeld der Brüsseler Erklärung formuliert wurde, eine wichtige Voraussetzung für eine weltweite bzw. UN-weite Übernahme. Davon abgesehen ist mit Cartagena erneut eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs vorgenommen worden, insofern anerkannt wird, daß schwere Verletzungen der Menschenrechte auch einen Flüchtlingsstatus begründen können.

Regionalisierung

Das Exekutivkomitee des UNHCR verabschiedete auf seiner 36.Sitzung eine Resolution zum Flüchtlingsproblem in Lateinamerika und zur Erklärung von Cartagena, die als ein regionaler Ansatz für die Lösung begrenzter Flüchtlingsströme begrüßt wurde. Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat in einer Entschließung zur „Migration und zu Flüchtlingsbewegungen in Lateinamerika vom 8.5.1987 die Bedeutung der Prinzipien und Empfehlungen in der Erklärung von Cartagena aus dem Jahre 1984 zur Lösung der Flüchtlingsprobleme in Lateinamerika" betont. In beiden Fällen ist erkennbar, daß man noch sehr bemüht ist, Cartagena zwar in seiner grundsätzlichen Bedeutung zu erkennen und zu werten, daß aber gleichzeitig der Versuch unternommen wird, Cartagena zu „regionalisieren". Dies dürfte, wie die Entwicklung lehrt und die weltweiten Erfordernisse belegen, ein letztlich untauglicher Versuch sein, an einer neuen, universal gültigen Definition vorbeizukommen.

Neue Ansätze

Dadurch, daß die Grünen nicht mehr im Bundestag sind, dürfte auch die von ihnen 1988 in einem Antrag enthaltene Asyl-Definition kaum noch diskussionswürdig sein. Danach sollten folgende Situationen ein Recht auf Asyl begründen:

„Völkermord, Bürgerkrieg, Krieg, Verfolgung aus ethnischen und religiösen Gründen, Verfolgung auf sexueller und- geschlechtsspezifischer Basis, wirtschaftliche und soziale Not und Ausweglosigkeit, Menschenrechtsverletzungen und Folter.

Hinter dieser Umschreibung steckt die Vorstellung, daß Menschen nur aus sehr ernsten Gründen ihre Heimat verlassen und eine ungerechte Weltwirtschaftslage die letzte Verantwortung für die Wanderungs- und Fluchtprozesse sind. Sie akzeptierte eine Zuwanderung und Zuflucht in die Bundesrepublik, bei der die Menschen das Recht auf Aufnahme nicht in einem fast zur Farce degenerierten Anerkennungsverfahren suchen müßten. Ihr Kommen aus den Kriegs- und Krisenregionen der Welt wäre die ausreichende Legitimation.

Diese Auffassung wird im gewissen Sinne vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gedeckt. 23 Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen haben 1989 ein kaum zur Kenntnis genommenes „Memorandum" zur Weltflüchtlingsproblematik vorgestellt. Darin wird die gängige Unterscheidung zwischen „politischen" Flüchtlingen, „Armutsflüchtlingen", „Umweltflüchtlingen" und „Wirtschaftsflüchtlingen" für problematisch erachtet. Denn gerade die Dialektik von politischer Gewalt und Mißachtung von Menschenrechten einerseits und ökonomisch-sozialen Problemen andererseits sei nur allzu bekannt.

Von dieser Einschätzung scheint auch die Flüchtlingskonzeption der Bundesrepublik Deutschland vom 25. September 1990 beeinflußt zu sein, wenn die Ursachen der Fluchtbewegungen als weitgehend identisch mit den großen politischen Fragen unserer Zeit betrachtet werden, nämlich: „Wirtschaftliche Unterentwicklung und Überbevölkerung, ökologische Krisen, Menschenrechtsverletzungen, Intoleranz, Gewaltanwendungen, Krieg und Bürgerkrieg". An anderer Stelle werden neben den politischen und ethnologischen Konflikten zwischen den Entwicklungsländern die Vernichtung von Lebensraum durch Raubbau an der Natur genannt.

In der genannten schwedischen Asylskizze wird festgestellt, daß der Begriff „Flucht" seine bisherige Prägnanz verloren habe:


„Unsere Konvention von 1951 definiert Flüchtlinge als Personen, die vor politischer Unterdrückung geflohen sind. Heute sind die Fluchtgründe viel komplexer. Schutzbedürftig sind nicht mehr nur politisch Verfolgte, sondern auch all jene, die vor Kriegen, Bürgerkriegen oder inneren Unruhen fliehen, und Menschen, die versuchen, einer Dürre, einer Umweltkatastrophe, einer Hungersnot oder einfach dem allgemeinen Elend zu entkommen."

Sadako Ogata, Hohe Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen, UNHCR, zitiert nach Die Zeit, 11 4. 1991


„Von den Flüchtlingen der Welt flieht heute nur ein kleinerer Prozentsatz aufgrund einer direkt gegen sie gerichteten Verfolgung oder der Androhung einer solchen. Die meisten fliehen als ein Teil einer Massenbewegung, infolge von Krieg und/oder internen bewaffneten Konflikten. "

Einen wichtigen Schritt weiter geht die Analyse, wenn sie zwischen den unmittelbaren und zugrunde liegenden Fluchtursachen unterscheidet. Die unmittelbaren Ursachen von Massenflucht würden im allgemeinen als politische Umwälzungen oder militärische Gewalt angegeben. Zugrunde lägen jedoch oft eine Verarmung der Naturressourcen und deren Möglichkeit, die Bevölkerung zu versorgen. D. h. also, daß hier der immer schärfer werdende Verteilungskampf beschrieben wird, der von den ökologischen Katastrophen zu politischer Unterdrückung führt. Der „Umweltflüchtling" wäre demnach auch im Zusammenhang mit schnell wachsenden Bevölkerungen der künftig vorherrschende Typ des „politischen" Flüchtlings.

Die letzten Dokumente belegen, daß, wer sich ernsthaft mit den Hintergründen erzwungener Wanderung befaßt, zu einer komplexen Sicht gelangt, die weder simple Einteilungen zuläßt noch bisherige Rechtsgrundlagen für ausreichend halten kann. Es sollte wichtigster Ausgangspunkt eines möglichst rationalen Diskurses sein, daß Flucht ein Phänomen länder- und regionenübergreifender Migrationsprozesse ist, bei denen es ein weites Spektrum von Zwangsphänomenen gibt, die vom ökonomischen und ökologischen Überlebenskampf bis zur politisch gewollten Unterdrückung oder Vernichtung eines einzelnen, einer Minderheit oder eines Volkes reichen.

Allerdings stellt sich bei dieser Betrachtung unter neuen Vorzeichen die alte Frage, wer dann jetzt als Flüchtling anerkannt oder abgelehnt wird. Ja, es erhebt sich gerade bei den Verteidigern des Rechts auf Asyl die ernste Sorge, daß bei einer Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs der bisher noch mögliche, sicher zu eingeschränkte Schutz von Flüchtlingen wegen des dann wesentlich größeren Personenkreises, der Aufnahme in einem Zufluchtsland begehren könnte, vollends gefährdet werde. Dies hänge mit der sicher sinkenden Bereitschaft der Aufnahmeländer zusammen, sich größeren Flüchtlingszahlen gegenüber offenzuhalten.

Diesem Dilemma ist aber nicht dadurch zu entkommen, daß an den bisherigen Rechtsinstrumenten mit ihren Einschränkungen festgehalten wird. Vielmehr geht es darum, sie sowohl zu stabilisieren als auch sie auszubauen und gegebenenfalls zu ergänzen. Dazu ist aber eine intensive geistig-politische Diskussion auf der Experten-Ebene zu führen. Sie ist möglichst bald in den politischen Diskurs überzuleiten. Nur dadurch kann der Boden dafür bereitet werden, daß auf Regierungsseite und bei internationalen Gremien etwas in Bewegung gerät.

Vielleicht hat aber die Flüchtlings-Solidarität noch nicht realisiert, wie weit der politische Diskurs bereits fortgeschritten ist.