Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1971

Katholische Morgenfeier
im Hessischen Rundfunk Frankfurt/M.
1. Hörfunkprogramm
am 21. Februar 1971
Jesus - kein Eigentum der Kirche

Musik:
Pietbiet 1001, Peter Jansens Musik Verlag,
Wir können nicht schweigen
Eingangslied: Wir können nicht schweigen ( 2'16")

(P: = Pfarrer Spr: = Sprecher)

P.:
Verehrte Hörer!

Vor Jahren hat der Theologe Karl Rahner in der Kirche eine Irrlehre entdeckt. Das war noch in der glaubensfesten Zeit vor dem. Konzil. Die Abweichung von der Lehre wurde nicht in Worte gefaßt. Sie wirkte unterschwellig in der Art, wie gedacht und gebetet wurde. Dabei handelte es sich nicht um eine moderne Strömung. Die uralte Frage: "Wer ist Jesus Christus?" war mit einer uralten Ansicht beantwortet worden. Weil diese einseitig war, hatte die Kirche sie schon längst zurückgewiesen. Damit war sie aber nicht für alle Zeiten erledigt. Sie zeigte sich am deutlichsten, wenn Kinder gefragt wurden, wer Jesus sei. Die prompte Antwort lautete fast ausschließlich: "Gott!" Denn im Bewußtsein stand die Gottheit Christi im Vordergrund. Seine Menschheit wurde zwar nicht geleugnet, spielte aber eine untergeordnete Rolle. Das war die heimliche und uneingestandene Einseitigkeit, früher "Irrlehre" genannt.

Das Bild hat sich verändert. Mittlerweile ist auch die katholische Kirche durch das Feuer der Bibelkritik gegangen. Mit den Theologen fragen sich die Gläubigen, wer dieser Jesus von Nazareth gewesen sei. Wie hat er damals gelebt? Was hat er wirklich gesagt? Sind tatsächlich Wunder geschehen? Es ist dadurch viel Unruhe entstanden. Obwohl sich bereits manches abgeklärt hat, ist sie noch nicht überwunden. Auf jeden Fall findet Jesus Christus als Mensch eine ganz besondere Beachtung.

Die Aufmerksamkeit beschränkt sich nicht auf die Kirche. über den Raum der Kirche hinaus besteht an ein großes Interesse an der Person Jesu. Sie nimmt auf überraschende Weise wieder eine zentrale Stelle ein. Vielen ist diese Tatsache verdächtig, weil gerade revolutionäre Bewegungen so gern von ihr sprechen. Es stört sie erheblich, wenn Jesus als sozialer Revolutionär vereinnahmt wird. Außerdem kann nach ihnen nur innerhalb der Kirche eine sinnvolle Aussage über Jesus gemacht werden. Die Auffassung eines Nichtchristen ist zwangsläufig falsch. Um Jesus wirklich zu verstehen, bedarf es des Glaubens und der kirchlichen Gemeinschaft. haben bereits die Jünger gedacht. Markus berichtet, wie Johannes recht aufgebracht zu Jesus kommt:

Lesung

Spr.:
"Meister, wir sahen einen, der beschwor die Dämonen in den Kranken, berief sich dabei auf dich und nahm deine Autorität in Anspruch. Er schließt sich uns aber nicht an, und wir haben ihm untersagt, deinen Namen zu nennen, weil er nicht zu uns gehören will.

Jesus erwiderte: ihr sollt ihn nicht hindern. Es ist ja nicht denkbar, daß einer sich auf mich beruft und sich zu mir bekennt, wenn er Kranke heilt, danach aber die Herrschaft ablehnt, die ich in Gottes Auftrag ausübe. Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns (Mk 9.38-40)".

P.:
Johannes ist in diesem Falle päpstlicher als der Papst. Er findet es unstatthaft, daß sich ein Außenstehender auf seinen Meister beruft. Das ist seiner Ansicht nach das besondere Vorrecht der Jünger. Sie haben es- sich verdient, weil sie in den Kreis der Freunde Jesu eingetreten sind. All jemand rechtens seinen Namen anrufen, muß er zuvor in die Gemeinschaft der Jesusjünger aufgenommen werden. Sonst schmückt er sich auf unzulässige Weise mit fremden Federn.

Jesus denkt großzügig. Der Raum der Herrschaft Gottes ist weiter, als sich seine Anhänger träumen lassen. Er beschränkt sich nicht auf die Gemeinschaft der Gläubigen. Diese ist sicher notwendig; schließlich hat Christus ganz bewußt Jünger um sich versammelt und ein besonderes Verhältnis zu ihnen gepflegt. Das konnte ihn aber nicht daran hindern, Gottes Herrschaft überall da wachsen zu sehen, wo seine eigene Person ernst genommen wurde. Daher weist er den Eifer des Johannes als falsch zurück. Das darf uns ebenfalls eine Lehre sein, wenn wir über die Kirche hinausblicken. Es gibt manche Stimmen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen.

Denker, die keine Christen sind, es nicht einmal sein wollen, sprechen heutzutage in eindrucksvoller Weise über Jesus. Das soll mit einigen Beispielen belegt werden.

Der jüdische Schriftsteller Schalom Ben-Chorin bezeichnet Jesus als seinen Bruder. Er begegnet ihm mit dem größten Respekt.

Spr.:

"Jesus tritt uns in einer unmittelbaren Nähe gegenüber, die freilich erst erkannt werden kann, wenn wir die Züge des jüdischen Mannes aus Nazareth von der Übermalung der christlichen Ikonologie gereinigt haben. Schicht um Schicht, die die Kirchengeschichte hier hinterlassen hat, muß abgehoben werden, damit man zum ursprünglichen Antlitz Jesu vordringt. Dieses Antlitz und diese Gestalt stehen aber dann nicht in einem leeren Raume, sondern müssen eingefügt erkannt werden in das ihnen zeitgenössische palästinensische Judentum."

P:
Im Grunde beschreibt Ben-Chorin einen Vorgang, der sich seit Jahrzehnten in der kirchlichen Schriftauslegung abspielt. Wir wollen Jesus besser verstehen, indem wir ihn in seine jüdische Umgebung stellen. Sein Bild wird dadurch viel lebendiger. Die Wunder, die die Schrift berichtet, brauchen nicht beseitigt zu werden.

Spr.:

"Die rationalistische Auflösung der Heilungen scheint mir hinfällig...Von Jesus geht eine heilig-heilende Kraft aus."

P:
So denkt ein Jude. Sicher hat er ein anderes Verhältnis zu Jesus als ein Gläubiger. Er glaubt nicht an die göttliche Stellung. Dafür zollt er dem menschlichen Glauben Jesu seine besondere Verehrung.

Spr.:

"Sein Glaube, sein bedingungsloser Glaube, das schlechthinnige Vertrauen auf Gott, den Vater, die Bereitschaft, sich ganz unter den Willen Gottes zu demütigen, das ist die Haltung, die uns in Jesus vorgelebt wird und die uns - Juden und Christen - verbinden kann."

P:
Ein zweites Beispiel, welche Beachtung Jesus bei Nichtchristen findet, sind die Sätze, die von dem marxistischen Philosophen Vitezslav Gardavsky stammen. Er kennt sich in der Bibel und in der Kirchengeschichte besser aus, als die allermeisten Christen. 1984 hat er eine Arbeit über den deutschen Katholizismus verfaßt. Sein besonderes Interesse gilt dem Verhältnis von Christentum und Marxismus. Dabei geht es ihm nicht im geringsten darum, Jesus als politischen Umstürzler oder Revolutionär einzustufen.

Spr.:

"Wir werden in den Evangelien keinerlei Andeutungen eines sozialreformerischen Programmes finden, es sei denn, wir gingen sehr primitiv vor und wollten es aus einzelnen herausgerissenen Zitaten zusammenstellen."

P:
Nach Meinung des Prager Philosophen hätte das Christentum seine Epoche kaum überlebt, wenn es nur mit dem Konzept einer neuen sozialen Ordnung aufgetreten wäre. Gardavsky glaubt, daß Tieferes im Spiel ist. Bewußt setzt er seine Ausführungen über Jesus unter die über Überschrift "Mensch und Wunder". Genauso wenig wie Ben-Chorin stellt er die Wunder in Frage:

Spr.:

"Jesus hat Wunder getan!"

P:
Diese Wunder greifen in den Lauf der Natur ein und verändern die normale Abfolge von Ursache und 'Wirkung. Sie erschöpfen sich nicht in irgendeiner hilfreichen oder nutzbringenden Tat, sondern sind der Ausdruck einer radikalen Haltung. Zu ihr fordert Jesus durch seine Wunder auf.

Spr.:

"Jesus ist überzeugt, daß der Mensch, um radikal entscheiden zu können, um mit seiner Tat ein 'Wunder' zu bewirken, von Liebe durchdrungen sein muß: von jenem tiefen, das ganze Wesen durchwaltenden und jeweils ganz aktuell durchlebten Wissen, daß der Mensch nur dann ist, wenn er über sich hinausgreift: sich selbst gegenüber, dem Nächsten gegenüber, Gott gegenüber. Und wenn er weiß, daß diese Tat seinen Geist herausfordert, seine Entschlußkraft, die Beteiligung aller seiner Sinne, seine zugleich aktive und passive Leidenschaftlichkeit."

P:
Mit dieser Einstellung tritt der Mensch in ein besonderes Verhältnis zum Tod:

Spr.:

"Ist aber die Liebe da, als Leidenschaft für ein überhöhtes Leben - und dies ist das Wesen des Anrufs Jesu -, dann kann der Tod (nicht nur der physische, sondern auch in tausenderlei alltäglichen Gestalten) nicht siegen. Deshalb ist die Liebe der am schwersten zu erreichende, aber auch der höchste Zustand des Menschen: an ihrem Gegenpol steht immer die Todesangst. Diese Grenze zu überschreiten, das heißt 'Auferstehen von den Toten', 'Leben als Mensch' ".

P:
Das dritte Zeugnis eines Nichtchristen über Jesus stammt von Roger Garaudy. Auch er ist Marxist und gehörte bis vor kurzem zu den einflußreichen Männern in der kommunistischen Partei Frankreichs. Mittlerweile wurde er wegen seiner unorthodoxen Äußerungen aus der Partei ausgeschlossen. Vorwurfsvoll wendet er sich an die Christen, die Jesus der Welt vorenthielten. Er bringt dies mit dem Kaiser Konstantin in Verbindung, der das Christentum im vierten Jahrhundert zur Staatsreligion erhob.

Spr.:

"Ihr, die ihr die große, uns von Konstantin geraubte Hoffnung unterschlagen habt, ihr Menschen der Kirche, gebt ihn (nämlich Jesus) uns wieder! Sein Leben und sein Tod sind auch für uns da, für alle jene, für die darin ein Sinn liegt. Für uns, die wir von ihm gelernt haben, daß der Mensch als Schöpfer geschaffen ist. Schöpferisch sein können, göttliche Eigenschaft des .Menschen, meine Hostie, in Realpräsenz ist sie stets da, wo etwas Neues im Entstehen ist, um die Menschengestalt zu vergrößern, sei es in der verrücktesten Liebe oder in der wissenschaftlichen Entdeckung, sei es in der Dichtung oder in der Revolution."

Musik:(Pietbiet 1001)
Zur Kommunionspendung: "Feuer wirft der Menschensohn" (4'2o'')

P:
Verehrte Hörer!

Jesus Christus ist kein Eigentum der Kirche, das es eifersüchtig zu hüten gälte. Jesus Christus gehört der Menschheit. Er ist in ihre Geschichte eingegangen. Sein Name würde selbst dann nicht mehr in Vergessenheit geraten, wenn es keine Kirche und keine Gemeinden mehr gäbe. Der Einfluß, den Jesus auf das Verhalten der Menschen bislang gehabt hat und noch weiterhin ausübt, ist nicht abzuschätzen. Dabei spielt die Kirche im Augenblick eine eigenartige Rolle. Ihr Zeugnis von Jesus Christus wirkt auf weite Kreise innerhalb und außerhalb der Kirche ziemlich belanglos. Vielfach gehen die dogmatisch verfestigten Aussagen über die Köpfe hinweg. Eine Beziehung zu den heutigen Fragestellungen ist nur schwer aufzuspüren.

Ganz anders ist es, wenn Menschen über Jesus sprechen,. die nicht zu seiner Gemeinde zählen. Sie erregen mit ihren Äußerungen mehr Aufmerksamkeit als die kirchliche Rede. Damit soll nicht gesagt sein, daß diese überflüssig geworden sei. Denken wir an den Ruf des französischen Kommunisten, der an die Kirche und ihr Christuszeugnis gerichtet ist. Dahinter steht eine große Erwartung. Sie ist einerseits auf die Person Jesu selbst bezogen, andererseits auf die Kirche. Diese sollte sich dem Ruf stellen, indem sie das Gespräch mit all denen aufnimmt, die sich für Christus interessieren. Ihre Fragen und ihre Antworten dürfen der Kirche nicht gleichgültig sein. Wo das der Fall wäre, könnte ihr Zeugnis keine Bedeutung haben. Ein Wort, das nicht vom Verständnis des andern ausgeht, bleibt nutzlos. Hier liegt zweifellos die Ursache für die geringe Wirkung von Predigten. Wenn die Kirche und die einzelnen Christen sich aber von dem Geist befruchten lassen, der außerhalb der Kirche weht, wird ihr Zeugnis lebendiger und wirksamer zugleich.

(kurze Pause)

Gebet

P:

Jesus Christus,
du warst großzügiger als deine Freunde. Sie wollten dich ausschließlich für sich besitzen. Damit wären der Herrschaft Gottes enge Grenzen gezogen gewesen.

Du hast solche menschlichen Beschränkungen nicht anerkannt. Sie widersprachen deinem Geist. Demnach ist jeder für dich und die Herrschaft Gottes, der sich dir nicht widersetzt.

Es gibt heute viele Geister, die sich dir nicht widersetzen, obwohl sie nicht zur Kirche gehören. Sie rufen dich sogar gegen diese an.

Ein Jude nennt dich auf herzliche Weise sein Bruder. Ein Marxist glaubt an deine Wunder, weil sie aus einer tiefen Liebe kommen.

Ein kommunistischer Philosoph hat die Angst, wir Christen könnten dein wahres Bild verstellt haben.

Laß uns auf diese Stimmen hören. Sie zeigen uns wieder einmal, daß du deiner Kirche voraus bist.

Musik: Pietbiet 1001)
Zum Kyrie: "Christus, hör uns an" (2’27’)’