Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1971
DAS UNVERZICHTBARE AM CHRISTENTUM
Universalität oder die Gemeinde


 

Will die Kirche in der augenblicklichen Situation ihre universale Aufgabe wahrnehmen, so setze sie in erster Linie auf die brüderliche Gemeinde. In ihr verwirklicht sich am ursprünglichsten die Kirche. In einer kleinen Gemeinschaft konzentriert sich das Universale.

Aus der Formulierung des Themas »Universalität oder die Gemeinde« wird nicht ersichtlich, ob in der Verknüpfung von Universalität und Gemeinde ein Gegensatz herausgestellt werden soll, oder ob es sich um austauschbare Vorstellungen handelt, so daß, wer als Christ »Universalität« sagt, gleichzeitig »die Gemeinde« meint und umgekehrt. Tatsächlich basieren die folgenden Ausführungen auf der Überzeugung, daß das Allumfassende des Christentums mit seiner Verfaßtheit in Gemeinden in einer Verbindung steht, die es verbietet, das eine ohne das andere zu sehen. Wo also von der Universalität der Kirche die Rede sein soll, wird man notwendigerweise von der Gemeinde sprechen, wo hingegen über das Wesen der christlichen Gemeinde nachgedacht wird, kommt unweigerlich deren universale Funktion in den Blick.

Diese Verbindung ergibt sich aus dem Glauben an die Himmelfahrt Christi, sofern es ihm gelingt, den theologischen Gehalt wahrzunehmen, der immer noch zu sehr durch vordergründige Problematik verdeckt wird. Den Ergebnissen der heutigen Schriftauslegung vertrauend, erweist sich die Vorstellung von dem in den Himmel aufgenommenen Herrn als ein wichtiger Aspekt des urchristlichen Osterglaubens. Dieser will nämlich nicht nur bezeugen, daß Jesus lebt, sondern daß er durch seine Auferweckung in ein neues Verhältnis zur Welt getreten ist. Damit kann Paulus im Kolosserbrief sagen: »Er ist der Erstgeborene vor aller Schöpfung; denn in ihm ward alles erschaffen, was im Himmel und auf Erden ist. .. alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Und er ist vor allem, und das All hat in ihm seinen Bestand.«

Diese Worte sind der Ausdruck dafür, daß Jesus Christus eine universale Bedeutung zukommt, die Himmel und Erde, Welt und Menschheit einschließt. Er wird zum Maßstab erklärt, an dem alles zu messen ist.

Mit dieser Überzeugung hat es nicht sein Bewenden; denn aus der universalen Stellung Christi fließt der besondere Auftrag für seine Anhänger, »Zeugen zu sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria, ja bis an die Grenzen der Erde«. Erteilt wird der Auftrag, der in dieser Form der Apostelgeschichte entnommen ist, vor der Himmelfahrt; hier ist besonders deutlich herausgestellt, wie der universale Auftrag an die Christen mit der universalen Rolle Christi zusammenhängt. Matthäus, der keinen Himmelfahrtsbericht bringt, läßt den Auferstandenen noch prägnanter seine eigene Universalität als Grundlage eines umfassenden Missionsauftrages herausheben: »Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden. So geht hin und werbet jünger für mich bei allen Völkern.«

Die Überzeugung, durch den universalen Christus auf universale Dimensionen verpflichtet zu sein, kristallisiert sich in einer kleinen Gemeinschaft heraus, die weder von ihrer religiösen Herkunft noch von ihrer gesellschaftlichen und politischen Stellung her auf Weltweite angelegt war. In einem allerdings sehr mühsamen und von Krisen durchsetzten Lernprozeß stellten sich die christlich gewordenen Juden auf diese Aufgabe ein.

Visionen des römischen Hauptmanns Kornelius auf der einen, Visionen des Petrus auf der anderen Seite mußten als Begründung aufgeführt werden, um die Taufe des Römers zu rechtfertigen. Petrus selbst gesteht verwundert ein: »Wahrhaftig, nun begreife ich, daß Gott nicht auf die Person sieht, sondern daß in jedem Volk ihm wohlgefällt, wer ihn fürchtet und recht tut. Wohl« - und damit kommt er auf seine grundsätzliche Schwierigkeit zu sprechen - »hat' er sein Wort den Kindern Israels gesandt und Frieden verkünden lassen durch Jesus Christus; aber dieser ist der Herr aller.«

Erst Paulus hat die vollen Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen und hat unter härtesten Auseinandersetzungen die Überwindung geistiger und lokaler Abgeschlossenheit erreicht.

Im Grunde war der Bruch mit der jüdischen Tradition nicht so einschneidend, gehörte es doch zum Glaubensbestand des Volkes Israel, daß Gottes Heil nur im ersten Ansatz auf dieses beschränkt blieb, in der Zeit messianischer Erfüllung aber allen Völkern zugedacht war. Das Neue in der Auffassung der Christen lag also weniger in dem Gedanken eines universalen Heiles als vielmehr darin, daß sie die Zeit für erfüllt betrachteten, in der diese Verheißung verwirklicht wurde.

Des weiteren entnahm die Kirche dem jüdischen Erbe die Idee, daß Gottes Heil nicht dem Individuum als solchem zuteil wird, sondern dem Volk Gottes und schließlich der Menschheit im ganzen. Es geht um eine Heilsgemeinschaft, in deren Mitte der Mensch die Erfahrung der Befreiung, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe machen soll. Nicht in dieser Gemeinschaft stehen zu dürfen oder gar aus ihr ausgestoßen zu sein, bedeutet das eigentliche Unheil.

Daher sehen die Christen ihre Gemeinschaft als den Beginn, wie sich das universale Heil verwirklicht. Die Beschreibung des Gemeindelebens, wie es sich anfangs einspielt, ist dafür die entscheidende Bestätigung. An zwei Stellen kommt die Apostelgeschichte ausführlich darauf zu sprechen. So heißt es im 2. Kapitel:

»Sie (die Christen) beharrten in der Lehre der Apostel und der brüderlichen Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet. Furcht kam über jedermann, und durch die Apostel geschahen viele Wunder und Zeichen. Alle, die zum Glauben gekommen waren, hielten fest zusammen und hatten alles gemeinsam.« Wie es mit diesem gemeinsamen Besitz aussah, wird noch näher beschrieben:

»Den Grundbesitz und die sonstige Habe verkauften sie und verteilten den Erlös an alle, je nachdem einer es brauchte. Täglich verharrten sie einmütig im Besuch des Tempels, brachen zu Hause das Brot und nahmen ihr Mahl in Freude und Einfalt des Herzens ein, indem sie Gott priesen und bei allem Volk beliebt waren.«

Der letzte Satz des Zitats beschreibt die missionarische Wirkung dieses Gemeinschaftslebens:

»Der Herr aber mehrte von Tag zu Tag die Zahl der zum Heil Gerufenen.«

Die Fähigkeit, ständig neue Menschen in die Gemeinde aufzunehmen, ist nicht nur ein Anzeichen dafür, daß die Gruppe von der ungebrochenen Dynamik des Anfangs beherrscht wird, sondern daß sie sich von vornherein universalistisch versteht. Von da wird auch die Unrast des Paulus erklärlich, der mit der Urkirche von der Naherwartung durchdrungen ist und deswegen von Stadt zu Stadt eilt, um möglichst viele - grundsätzlich natürlich alle - in die Sphäre des Heils einzubeziehen. Quantität ist in diesem Fall qualitativ fundiert. Das kommt besonders deutlich in dem alle Unterschiede nivellierenden Wort zum Ausdruck:

»Da gilt nicht mehr Jude oder Grieche, nicht mehr Sklave oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau: denn ihr alle seid einer in Christus« (Gal. 3,28).

Das Christentum ist eben auch in dem Sinne universal, daß es alle Schichten und Klassen transzendiert. Gerade hier zeigt es von Anfang an seine besondere Kraft, zu integrieren und soziale Unterschiede einzuschmelzen im Geist der Gleichheit von Söhnen und Töchtern des Vaters im Himmel.

Ein besonderes Merkmal der frühen Gemeinden bedarf aber noch besonderer Erwähnung, weil es in einem gewissen Gegensatz zu dem bisher Gesagten steht. Bei prinzipieller Offenheit für alle rekrutierten sich die christlichen Gemeinschaften aus den unteren sozialen Schichten. Das spiegelt sich in dem Satz des I. Korintherbriefes wider:

»Da sind nicht viele Weise im irdisch-menschlichen Sinne, noch viele Mächtige oder viele Hochgeborene.« Der theologische Grund ist darin zu sehen, daß das Evangelium Christi in erster Linie als Wort der Befreiung und Erlösung an die Kleinen und die Törichten dieser Welt gerichtet war und die stärkste Resonanz eben auch in diesen Kreisen fand. Es ist aber auch ein sozialpsychologischer Grund mit im Spiel. Eine weltanschauliche Gruppe, die sich in einer etablierten Gesellschaft bildet, findet zuerst bei den Entrechteten und den am Rande dieser Gesellschaft Stehenden Gehör. Das ist insofern verständlich, als diese Menschen von dem Bisherigen keine Änderung ihrer Lage erhoffen können, nur von einem neuen Geist und von neuen Kräften. Denken wir in diesem Zusammenhang an den ungeheuren Erfolg, den die Sekten in Südamerika haben. So trägt auch das Christentum am Beginn alle Merkmale einer Sekte an sich.

Dennoch blieben die christlichen Gemeinden Gebilde, die keinen Menschen ausschlossen, der sich auf Christus und seinen Geist einzulassen bereit war, und der in den bestehenden Bruderschaften die Gottesherrschaft bereits im Ansatz verwirklicht sah; das Leben miteinander, die Erfahrung verzeihungsbereiter Liebe,: die unbändige Freude einer neuen Freiheit galten als eine Existenzweise, deren Beglückung den anderen Menschen nicht vorenthalten werden sollte. Schließlich resultierte das neue Leben aus der Erfahrung, daß eine andere Welt, die Welt Gottes im Kommen war. Die im Ansatz geglückte Gemeinschaft der Christen war der verheißungsvolle Keim, der die Veränderung des Universums in sich barg. Der Christ, der aus der Atmosphäre seiner Gemeinschaft heraustrat, konnte nicht umhin, überall von ihr Zeugnis zu geben und zeichenhaft zu leben, was seinem Glauben nach allen zugedacht war.

Diese universalistische Einstellung, die von einer kollektiven Erfahrung gespeist wurde, erfährt im Laufe der Kirchengeschichte eine radikale Interpretation durch das einseitige Verständnis des Satzes: »Außerhalb der Kirche kein Heil!« Über viele Jahrhunderte werden unzählige Missionare zu Höchstleistungen angespornt, um die einzelnen Menschen in den verschiedenen Völkern der Erde dem Unheil zu entreißen und sie zu Gliedern der Kirche zu machen. Ein ebenso kennzeichnendes wie herausragendes Beispiel ist Franz Xaver, der Indien, Japan und China zu bekehren trachtete. An ihm zeigt sich aber auch die gewandelte Form, in der die Kirche ihre universale Funktion wahrnehmen wollte. In den Stammländern der Christenheit war sie längst Volkskirche geworden. Universales Auslangen in die Welt wurde zu einer Sonderaufgabe, die von zu diesem Zweck gegründeten Ordensgemeinschaften wahrgenommen wurde. Bezeichnenderweise wird in ihnen der ursprüngliche Geist christlicher Brüderlichkeit gepflegt, ja oft als Grundgesetz jeder christlichen Gemeinschaft wiederentdeckt. Auch hier liegt wieder eine Form neuer Sektenbildung vor, diesmal im Gegensatz zu einer sich selbst konservierenden christlichen Gesellschaft und einer Kirche, der es genügte, wenn allenthalben Gottesdienste gehalten, moralische Vorstellungen eingeprägt und Glaubensbekenntnisse gleichlautend rezitiert wurden. Der Anspruch an die Gemeinden, durch die Art ihres Zusammenlebens, durch ihre gemeinsamen Glaubenserfahrungen Christi Geist als Grundgesetz menschlichen Lebens herauszustellen, wurde zwar im Wesen nicht aufgegeben, spielte aber nur in den eben erwähnten klösterlichen Gemeinschaften eine konstitutive Rolle, und bei ihnen oft auch nur in der Gründungszeit. Jedenfalls zeigt sich aber wieder, daß die christliche Brüderlichkeit auf das Universale hindrängt.

Heute erleben wir in der Christenheit einen mächtigen Impuls auf die Universalität hin. Er zeigt sich in allen Konfessionen und Denominationen und geht einher mit dem unwiderruflichen Zerfall volkskirchlicher Strukturen, nicht zuletzt auch mit der Einsicht, daß die universale Aufgabe der Kirche nicht unbedingt an der Verkirchlichung des menschlichen Universums hängt. Wohl aber ist diese Neuorientierung gepaart mit der Wiederentdeckung der christlichen Gemeinde als einer personalen Gemeinschaft.

Die gesamte Bewegung muß aber im Rahmen der Entwicklung gesehen werden, die die heutige Menschheit erlebt. Zu dieser Entwicklung gehört das Bestreben, auf weltweiter Grundlage zur Einheit zu finden; auch wenn diese wohl nur unter größten Krisen erreicht werden kann, gehört sie zu den faszinierenden Idealen unserer Epoche. Unter diesen Vorzeichen bekommt auch eine universalistische Religion wie das Christentum ganz neue Chancen, gehört doch die vom Geiste Gottes geeinte Menschheit zu den unverzichtbaren eschatologischen Hoffnungen. Die von dieser Hoffnung getragene Konzilskonstitution über die Kirche in der Welt von heute kann daher sagen: »Die Kirche anerkennt weiterhin, was an Gutem im heutigen gesellschaftlichen Dynamismus vorhanden ist, besonders die Entwicklung hin zur Einheit, den Prozeß einer gesunden Gemeinschaftsbildung und der bürgerlichen und wirtschaftlichen Vergesellschaftung. Die Förderung der Einheit gehört nämlich zum innersten Wesen der Kirche, da sie in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innerste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit ist.« Das Grundsatzdokument fährt dann über die inneren Voraussetzungen von Einheit und Zusammenschluß fort: »So zeigt sie (die Kirche) der Welt, daß der wahre äußere Zusammenschluß der Gesellschaft aus der Einheit in Geist und Herz fließt, aus jenem Glauben und aus jener Liebe, worauf ihre Einheit im Heiligen Geist unauflöslich gegründet ist.«

Gerade wegen ihrer Universalität glaubt die letzte Kirchenversammlung in Rom, daß der Kirche eine besonders verbindende Kraft geschenkt ist. Sie zeige sich darin, daß sie wegen ihrer Sendung an keine spezielle Form menschlicher Kultur oder an kein besonderes wirtschaftliches System gebunden sei, und wegen der darin liegenden Universalität ein ganz enges Band zwischen den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilde. Das ist zwar sehr überzeugt gesehen, formuliert aber mehr einen Anspruch als eine Wirklichkeit, wenn man bedenkt, wie stark die Kirche in verschiedenen Gebieten mit bestimmten überholten Herrschaftsformen und wirtschaftlichen Systemen liiert ist. Daher spricht die jüngste Weltkirchenkonferenz von Uppsala zwar auch im gleichen Sinne von der einheitsstiftenden Funktion der Kirche, drückt es aber in einem Sektionsbericht im Blick auf die Realität mit der gebotenen Zurückhaltung aus:

»Die Kirche wagt es«, so heißt es da, »von sich selbst als dem Zeichen zukünftiger Einheit der Menschen zu sprechen. Wie gut dieser Anspruch auch begründet sein mag, die Welt vernimmt ihn mit Skepsis und verweist auf ihre eigenen säkularen >Katholizitäten<.«

Die Skepsis der Welt gegenüber der Kirche ist sicher berechtigt. Damit ist aber weder das Potential, das die Kirche in dieser Hinsicht besitzt, in Frage gestellt, noch ein Gegensatz zwischen kirchlicher und säkularer Katholizität, sprich Universalität, behauptet. Das Konzil jedenfalls sah sich durchaus berechtigt, beides in einer großen Linie zu sehen. Theologen, wie Metz etwa, haben diesen Gedanken noch weitergetrieben, indem sie das Fundament der Neuzeit als christlich bezeichnen. Dabei ist wohlweislich zu unterscheiden zwischen der Behauptung, die Welt sei bereits christlich, was niemand ernsthaft sagt, und der These, daß die Strukturen, nach denen unsere Gesellschaft gebaut wird, christlichen Vorstellungen entsprechen, wenigstens dem Ideal nach. Zu diesen Strukturen werden als wesentliche Momente Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit und Toleranz gezählt, ebenso auch die Wissenschaft und die Technik als solche. Die Theologen sprechen von einer hominisierten Welt, die ganz auf den Menschen hin angelegt ist und in der die Konsequenz aus dem biblisch-christlichen Glauben gezogen wurde, daß die Welt Schöpfung und als solche nicht göttlich ist. Eine hominisierte Welt ist natürlich noch lange keine humanisierte Welt.

Dennoch bedeutet es für die Kirche einen ganz anderen Ansatz für ihre Wirksamkeit, wenn sie ein christliches Grundmuster in der Welt erkennen kann. Aus diesem Grund und aus manchen anderen gelangen ernsthafte christliche Denker zu der Überzeugung, dem Christentum seien in der augenblicklichen Stunde geradezu einmalige Möglichkeiten geboten, sich mit seinen Kräften und Ideen ganz auf diese Welt einzulassen, die nichts dringender brauche als diese, um nicht der schrecklichsten Unmenschlichkeit aller Zeiten zu verfallen bzw. verfallen zu bleiben.

Wie die Kirche glaubt der Welt helfen zu können, ist in dem ebengenannten Konzilstext mitenthalten:

»Die Kraft auch, welche die Kirche der menschlichen Gesellschaft von heute einzugeben vermag, besteht in der lebendigen Verwirklichung dieses Glaubens und dieser Liebe (die wir dem Geiste Gottes verdanken), nicht aber in irgendeiner äußeren, mit rein menschlichen Mitteln ausgeübten Herrschaft.« Mit dieser Gegenüberstellung wird ein innerkirchliches Umdenken spürbar, dessen Vertrauen auf die Macht, die die internationale Organisation gerade der katholischen Kirche darstellt, erheblich vermindert ist. Es bedarf wohl auch keiner besonderen Analyse, um festzustellen, wie schwindsüchtig der Einfluß einer Kirche ist, die mehr auf ein institutionelles Funktionieren als auf die Verwirklichung der christlichen Grundakte und deren Voraussetzungen bedacht ist. Die entscheidende Voraussetzung zur Realisierung von Glaube und Liebe ist eine lebendige christliche Gemeinschaft; Kirche existiert also nicht zuerst als eine Dachorganisation, sondern als Gemeinde von Ephesus, Korinth oder Rom. So wird auch die Kirche künftighin nur Bestand haben und ihren universalen Beitrag leisten, wenn sie von der Basis aus eine Gesamtheit von Gemeinden bildet, in denen echte Erfahrungen des Glaubens und der brüderlichen Liebe gemacht werden.

Die innerkirchliche Auseinandersetzung um Aufbau und Funktionsweise unserer Pfarreien läßt erkennen, daß hier Anspruch und Wirklichkeit in einer Weise auseinanderfallen, die den Ruf nach dem ganz Neuen verständlich macht.

Man traut den schwerfälligen und durchwegs konservativen Gemeinden einfachhin nicht mehr die Kraft zu, sich zu regenerieren. Allerdings läuft der kritische Blick auf die heutige Gemeinde Gefahr, die vielseitigen Ansätze zu übersehen, die inner- und außerhalb der bestehenden Gemeinden zur christlichen Gemeinschaft führen. Sie bildet sich allenthalben auf der Welt, kämpft in vielen Fällen gegen die amtliche Kirche um ihre Existenzberechtigung, nicht zuletzt deswegen, weil sie oft auf ökumenischer Grundlage entsteht.

So gibt es in den USA eine starke Bewegung zu kleinen aktiven Christengemeinden, die im betonten Gegensatz zu einer Hierarchie stehen, die es anders als in Holland versäumt, in Kommunikation zu allen engagierten Kräften der Kirche zu treten. Üer die nordamerikanische Bewegung liegen bereits gründliche Untersuchungen vor, die von einigen Hunderten solcher Gemeinschaften ausgehen. Diese Gruppen setzen sich aus 25- bis 45jährigen zusammen, zumeist sind es Akademiker, Ingenieure, Juristen und Journalisten, dazu jüngere Geistliche, von denen ein Teil von ihren Bischöfen suspendiert wurde. Die Gruppen besitzen keine besondere Organisation; die in ihnen tätigen Priester genießen weder Vorrang noch Privilegien. Man hat sich zusammengefunden, weil gerade in den USA eine große Diskrepanz auftrat zwischen dem, was das Konzil anregt, und dem, was sich die Bischöfe zu verwirklichen trauten. So sind diese Christen auf der Suche nach der authentischen christlichen Gemeinschaft, die sie in der offiziellen Kirche nicht mehr zu finden glauben.

Auf unkonventionelle Weise trachten sie danach, das Evangelium zu verstehen, es in ihrer Gemeinschaft zu leben und für die Gesellschaft fruchtbar werden zu lassen. Bei den Initiatoren dieser Untergrundkirche handelt es sich um sehr mobile, kosmopolitische Menschen, die eine Anhängerschaft um sich scharen, die keineswegs aus unzufriedenen Zynikern und Querulanten besteht. Distanzierte Beobachter empfehlen der Amtskirche, das Vorhandensein dieser Gruppen als tiefgreifende Kritik an der bestehenden Kirche ernst zu nehmen.

Wie eine solche Gemeinde aussehen kann, zeigt sich an der sogenannten Cafehauskirche. In einem Cafe, womöglich in eigener Regie geführt, treffen sich Christen in zwangloser Weise. Sie trinken Kaffee, rauchen und diskutieren. Hier finden aber auch Vorträge, Arbeitsgespräche, Konferenzen und Gottesdienste statt. Amtsträger verschiedener christlicher Konfessionen wechseln sich dabei ab; konfessionelle Grenzen spielen keine Rolle mehr. Es geht um die Reflexion des Evangeliums und der konkreten Probleme, wie sie vor allem die amerikanischen Riesenstädte aufwerfen. Die tragende Gruppe der Cafehauskirche fühlt sich verantwortlich für die Stadt und ist jederzeit bereit, sich den Nöten und Schwierigkeiten zu stellen. Anderseits ist jeder herzlich willkommen, der das Cafe betritt, sei es, daß er nur etwas ausruhen möchte, sei es, daß er Hilfe braucht. Die Gemeinschaft selbst ist übersichtlich, mit vielseitigen persönlichen Kontakten. Wie die ersten Gemeinden versuchen sie im Geiste Christi zu leben, pflegen die Tischgemeinschaft und üben individuelle und kollektive Diakonie. Sie sind eine Gruppe mit personaler Bindung und universaler Öffnung.

Ein Beispiel ganz anderer Art stellt eine Gruppe italienischer Christen dar. Sie wurde auf einem europäischen Pfarrertreffen als charakteristisch für die neuen Tendenzen der Gemeindebildung in der Kirche herausgestellt. Eine Anzahl jüngerer Katholiken fühlt sich der Einheit mit den Kirchen in den sozialistischen Ländern des Ostens verpflichtet. Sie unternimmt zahlreiche Reisen in diese Länder, unterhält dauerhafte Kontakte mit Jugendlichen, Theologen und Journalisten und gibt eine Zeitschrift heraus, die die eigenen Landsleute informieren soll. Der Redaktionsstab ist nicht nur ein gut eingespieltes Arbeitsteam, sondern eine bewußt christliche Gemeinschaft. Das eigentlich verbindende Element ist nicht die gemeinsame Arbeit, sondern der Wille, Kirche zu leben in einer Gemeinschaft des Handelns, der Entscheidung und auch des Besitzes. Der italienische Theologe beschloß seinen Bericht über diese Gruppe folgendermaßen:

»So kann der der italienischen Kirche durch diese Gruppe geleistete Dienst beispielhaft werden für eine neue Konzeption missionarischen Einsatzes. Die Gruppe, die diese Konzeption verwirklicht, wird im gesellschaftlichen Bereich zum sichtbaren Ausdruck für eine neue, auf der menschlichen Person begründeten Ordnung als Folge einer Wiederbelebung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden.«

Überlegungen, wie derartige Modelle in der Kirche allgemein verwirklicht werden, hat unter anderem der Publizist Alfons Rosenberg angestellt. Er verlangt, daß die christliche Existenz sich in zahllosen Bünden und Bruderschaften realisieren muß, damit es wieder zur Kirche kommt. Die Formen dieser Bruderschaften werden vielseitig sein und sich erheblich vom einförmigen Typus der üblichen Kirchengemeinden abheben. Dies wird von den Umständen, der selbstgewählten Aufgabe und der Spiritualität abhängen. Nach den Vorstellungen von Rosenberg werden die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft beruflich und gesellschaftlich an den verschiedensten Stellen tätig sein, aber als geistiges Zentrum ein Haus haben, in dem sie sich zur Stärkung und Erneuerung einfinden. Ein Teil der Mitglieder wird mehr an das Haus gebunden sein und in enger Gemeinschaft von Unverheirateten und Familien sich gegenseitig in jeder Weise unterstützen und helfen. Sie werden dafür verantwortlich sein, daß das »christliche Bruderschaftshaus« eine Stätte der Sammlung und Erprobung, der schlichten Realisierung von menschlichen Freuden und Pflichten unter der geistigen Führung Christi ist. »Darüber hinaus«, so heißt es über die weitere Aufgabe solcher Häuser, »sind solche von der Dynamis des gemeinsamen Lebens erfüllte Häuser als Strahlungszentren Missionsstationen. Mission heißt hier einfach, ein Beispiel geben durch tätige Liebe, durch die Wahrung des Friedens, durch unermüdliches Streben und, soweit dies möglich, Realisieren der Wahrheit durch Teilnahme an den Problemen der größeren Gemeinschaft, durch Solidarität auch mit den Nichtchristen als Menschen ohne Privilegien.«

Diese Öffnung nach außen betont Rosenberg besonders, wenn er fortfährt:

»Solche Bruderschaften werden sich von der nichtchristlichen Umgebung und Nachbarschaft nicht abschließen. Im Gegenteil, das Prinzip des offenen Hauses ermöglicht diesen Bruderschaften freundschaftliche Beziehungen ringsumher, regen Austausch nicht nur der geistigen Güter und tätige Hilfe für jeden Nächsten, welcher ihrer bedarf. Die Einheit solcher Bruderschaften ist gewährleistet durch die Mitte, durch die Liebe zu Jesus, auf die alle Glieder zuinnerst bezogen sind.«

Rosenberg sagt nicht, ob er dieses Bild einer neuen Gemeinde an bestehenden und ihm bekannten Gemeinschaften abgelesen, oder in seiner Sensibilität für den gesellschaftlichen und kirchlichen Wandlungsprozeß aus mehr theoretischen Grundlagen entworfen hat. Wie dem auch sei, es gibt das Beispiel einer Gemeinde, das bis in Einzelheiten dem vorgelegten Entwurf entspricht: In München hat sich eine Gemeinschaft verheirateter und eheloser Christen zusammengefunden. Sie versuchen, ihr ganzes Leben unter den Anspruch Gottes zu stellen, und das Glück ihres Lebens, Begabung, Beruf und Freizeit, die Familie, auch die Schwierigkeiten im Leben der Gemeinde zu verankern. Es steht ihnen ein Haus zur Verfügung; für die verschiedenen Aufgaben in der Gemeinde werden einige Mitglieder freigestellt. Die ganze Einrichtung wird durch die erklecklichen Beiträge aus dem Einkommen der einzelnen unterhalten. Eine besondere Anziehungskraft bekommt die Gemeinschaft durch eine von ihr herausgegebene Zeitschrift mit dem Titel »Die integrierte Gemeinde«. Hier wird von den Erfahrungen und Vorstellungen Zeugnis gegeben, die in dieser Gruppe lebendig sind. Als ihr Hauptkennzeichen betrachtet sie die Einmütigkeit, die ausdrücklich auch von den Gemeinden des Neuen Testamentes ausgesagt wird. Überhaupt zählt es diese »integrierte Gemeinde« zu ihren überraschenden und vielfach bestätigten Erfahrungen, daß sich das in der Schrift aufgezeichnete Leben der Urgemeinden in ihrer Mitte wiederhole. Die Bedeutung dieser Gemeinschaft steht in umgekehrtem Verhältnis zur geringen Mitgliederzahl.

Überblicken wir die gesamte Bewegung zur kleinen, aber auf die Umwelt bezogenen kirchlichen Gemeinschaft, eine Bewegung, die sich auch innerhalb der bestehenden Pfarreien abzeichnet und dort zu Substrukturen führt, dann haben wir es religionssoziologisch mit dem Phänomen der Sektenbildung zu tun. Das heißt, die Religionssoziologie wird versuchen, die neue Entwicklung in eines ihrer bisherigen Schemata einzuordnen. Danach gibt es von Anfang an ein Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Sekte. Es handelt sich um ein Wechselspiel, das im Laufe der Geschichte immer wieder dazu geführt hat, die Institution der Intuition folgen zu lassen und in der Stufe größter Verfestigung wieder eine geistige und strukturelle Verflüssigung zu provozieren. In einem einfachen Modell ausgedrückt: Der Sekte folgt die Kirche, und der Kirche die Sekte. Auf den ersten Blick ergeben sich bei der neuen Gemeinschaftsbildung unter Christen ganz entscheidende Beziehungen zu dem, was religionssoziologisch eine Sekte ausmacht. Hier wie dort finden wir eine Minderbewertung von Formen, Ritus, Amt, systematischer Theologie, ferner einen politischen und gesellschaftlichen Nonkonformismus. Dennoch sind die Unterschiede, die wissenschaftlich über die bisherigen Sektenformen ausgemacht wurden, gegenüber dem Erscheinungsbild der neuen Gruppen doch beachtlich. Sie kapseln sich nicht von ihrer Umgebung ab, sie sind nicht autoritär und einseitig. Im Gegenteil, sie wollen sich ganz stark auf die heutige Welt einlassen, sie sind grundsätzlich offen für alle, sie sind demokratisch und besitzen ein hohes Niveau geistiger Reflexion.

Damit stellen sie einen relativ neuen und zeitgemäßen Typ christlicher Gemeinschaft dar. Wenn sie in vieler Hinsicht in einen Gegensatz zu der geistigen und soziologischen Verfassung der heutigen Kirche geraten, so helfen uns gerade die letzten Überlegungen dazu, dies als eine ebenso notwendige wie unvermeidliche Entwicklung einzustufen. Die Kirche braucht Institutionen, sie kommt aber damit immer wieder an einen Punkt, an dem diese mehr schaden als nützen, wenigstens in der Form, wie sie sich in einer bestimmten historischen Stunde ergeben haben. Will die Kirche in der augenblicklichen Situation ihre universale Aufgabe wahrnehmen, so setze sie in erster Linie auf die brüderliche Gemeinde. In ihr verwirklicht sich am ursprünglichsten die Kirche. Damit ist sie bereits - wenn auch unvollkommen - Manifestation der Herrschaft Gottes unter den Menschen, Vorwegnahme der neuen Welt und der neuen Menschheit. In einer kleinen Gemeinschaft konzentriert sich das Universale.

Vortrag im Hessischen Rundfunk Frankfurt/Main - veröffentlicht in: Volker Hochgrebe und Norbert Kutschki (Hrsg.), Das Unverzichtbare am Christentum, Mainz 1971, S.114-124