Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1978

HESSISCHER RUNDFUNK
2. HÖRFUNKPROGRAMM
Dienstag, 21.2.1978, 18.45 bis 19.00 Uhr
Redaktion: Norbert Kutschki

OHNMACHT DER MINDERHEITEN UND MACHT DER KIRCHE

Eines der klassischen Beispiele, wie sich die mächtige Kirche der Bundesrepublik der Ohnmacht einer Minderheit anzunehmen versucht, ist ihr gesellschaftspolitisches Verhalten gegenüber den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien. Aber mit welchem Erfolg?


In der Politik spielen nicht Minderheiten, sondern Mehrheiten die entscheidende Rolle. Dies gilt für alle politischen Systeme, für Diktaturen, Monarchien und parlamentarische Demokratien. Während bei Diktaturen Mehrheiten durch Massenaufmärsche vorgetäuscht werden, müssen sie in Demokratien bei Wahlen gewonnen werden. Vor der Mehrheit, die ein Politiker zu gewinnen trachtet, oder gewonnen hat, muß er sich legitimieren - das heißt, er hat seine politischen Vorstellungen und Entscheidungen plausibel zu machen, zu rechtfertigen und immer wieder absegnen zu lassen.

Dennoch haben auch Minderheiten in einem parlamentarischen System ihre Chancen, wenn sie mögliche Mehrheiten darstellen, wenn sie als Zünglein an der Waage Mehrheitsverhältnisse verändern können, oder wenn ihre Bedürfnisse, Defizite oder Reaktionen Wohl und Wehe der Mehrheit berühren bzw. beeinträchtigen. Sind Minderheiten in der Lage sich zu organisieren, das Ohr der Massenmedien zu finden, oder durch spektakuläre Aktionen die Öffentlichkeit zu irritieren, wird ihnen ebenfalls politisches Gewicht beigemessen.

Schließlich gibt es noch eine Form, die an sich machtlosen Minderheiten ins politische Kräftespiel einzubeziehen. Und hierum geht es in den folgenden Überlegungen: Gesellschaftliche Kräfte, die auf Seiten der Mehrheit stehen und einen entscheidenden Einfluß auf die Mehrheiten auszuüben vermögen, setzen sich für eine Minderheit ein.

Eine solche Kraft mit gesellschaftspolitischer Auswirkung stellt die Kirche - näherhin die katholische Kirche - dar. Ihr gehört in der Bundesrepublik die Hälfte - ja mittlerweile sogar mehr als die Hälfte – der Bevölkerung an. Die Zugehörigkeitsgrade mögen sehr unterschiedlich sein. Auch mag der politische Effekt der katholischen Kirche von der Bevölkerung sehr niedrig eingeschätzt werden. Dafür rangiert sie bei Politikern und im gewissen Sinne auch bei den Massenmedien obenan. Sicher entspricht der gesellschaftliche Einfluß der Kirche nicht der großen Zahl ihrer nominellen Mitglieder, dafür reicht er aber von der Geschichte und Tradition her in sehr tiefe Schichten menschlichen Sozialverhaltens hinein.

Wie steht nun diese Kirche vor der Ohnmacht der Minderheiten? Im Unterschied zu den Politikern hat sie sich nicht vor den mächtigen Mehrheiten, sondern vor den schwachen Minderheiten zu legitimieren, zu rechtfertigen. Letztlich geht es um die Legitimation vor Jesus Christus. Das II. Vatikanische Konzil sagt: "Die Kirche umgibt alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja, in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war."

Die christliche Gemeinschaft hat demnach einen untrüglichen Spiegel. Blickt sie in ihn hinein und erkennt sich nicht voll und ganz in den Schwachen dieser Erde wieder, steht sie in Frage. Sich selbst aber in den Schwachen, Armen und Leidenden wiedererkennen bedeutet, in Gemeinschaft mit ihnen stehen, ja selbst deren Gemeinschaft zu sein. Verfolgen wir diesen Gedanken nicht weiter, der geeignet wäre, die Grundfesten einer mächtigen Kirche ins Wanken zu bringen.

Eines der klassischen Beispiele, wie sich die mächtige Kirche der Bundesrepublik der Ohnmacht einer Minderheit anzunehmen versucht, ist ihr gesellschaftspolitisches Verhalten gegenüber den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien. Für diese Bevölkerungsgruppe hat sie im November 1973 auf der Gemeinsamen Synode in Würzburg ein Grundsatzdokument verabschiedet. Es trägt die Überschrift "Die ausländischen Arbeitnehmer - eine Frage an die Kirche und die Gesellschaft". Dieser mit überwältigender Mehrheit angenommene Beschluß soll maßgeblich für kirchliches Denken und Handeln sein. Die Kirche verpflichtet sich darin, "sich zum Anwalt jener Menschen zu machen, deren Rechte und Freiheit durch gesellschaftliche Verhältnisse in ungerechter Weise eingeengt oder beschnitten werden.“

Im Rahmen dieser Verpflichtung hat sich die Synode ausdrücklich als Anwalt und Verteidiger der ausländischen Arbeitnehmer erklärt. Sie will aber nicht nur Anwalt sein, sondern auch Solidarität üben. So heißt es: "Die Kirche nimmt sich vor allem der Fremden und Bedrängten an, macht sich die Leiden und Anliegen der Randgruppen und der Unterdrückten zu eigen". Es werden gesellschaftliche Strukturen gefordert, die so angelegt sind, "daß dem ausländischen Arbeitnehmer und seiner Familie ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, ein größtmögliches Maß von eigener Entscheidungsfreiheit und Mitwirkung, volle Gleichheit der Chancen und sozialen Sicherung ... und so ein Leben ermöglicht wird, das der Würde des Menschen entspricht".

Die Synode appelliert, und zwar an wenigstens 25 verschiedene Adressaten in der Bundesrepublik und in Europa. Aufgerufen werden aber auch die Christen und die Kirche in all ihren Gliederungen, "die Rechte der Ausländer zu verteidigen und ihre Chancengerechtigkeit in Kirche, Staat und Gesellschaft durchzusetzen."

Von ihrem Selbstverständnis her, von ihrer Größe und ihrer gesellschaftspolitischen Macht her, gibt es sicher - außer den Gewerkschaften - kaum eine andere Institution wie die Kirche, die in Sachen Ausländer gegenüber der großen Politik in so idealer Weise Anwaltsfunktionen ausüben kann.

Was ist nun vom November 1973 bis heute geschehen? Die Kirche hat in einer Weise für die Belange der Arbeiter nichtdeutscher Herkunft interveniert, die nur noch von dem Einsatz für das ungeborene Leben bei der geplanten Änderung des § 218 übertroffen wurde.

Es hat Appelle des verstorbenen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner und des jetzigen Vorsitzenden, Kardinal Höffner gegeben. Des weiteren Stellungnahmen der Deutschen Bischofskonferenz, des Katholischen Büros und des Katholischen Auslandssekretariates in Bonn, Fernschreiben und Briefe des in der Bischofskonferenz für Ausländerfragen zuständigen Bischofs von Osnabrück, Hermann Wittler, Hirtenbriefe mehrerer Bischöfe, Aufrufe verschiedenster Diözesan- und Katholikenräte und katholischer Verbände. Hervorzuheben ist der gemeinsame Einsatz der Kirchen und kirchlichen Wohlfahrtsverbände zugunsten der ausländischen Arbeiter; Verhandlungen in Gremien und Beiräten der Regierungen auf Bundes- und Länderebene; Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik; gemeinsame Aufrufe zu den "Tagen des ausländischen Mitbürgers".

Eine naturgemäß wichtige Rolle hat bei dem Ganzen der Deutsche Caritasverband gespielt. So hat sich der Präsident des Deutschen Caritasverbandes zusammen mit dem des Diakonischen Werkes verschiedentlich an die Bundesregierung gewandt. Die Pressestelle des Caritasverbandes hat Aufsehen erregt mit kritischen Dokumentationen und Informationen. Direktoren der Diözesancaritasverbände haben ihren Einfluß bei Sozial- und Innenministern geltend gemacht.

Das sind nur einige der wichtigsten Beispiele für den Einsatz der Kirche. Obwohl sie dabei auf eine Veränderung und Verbesserung der Ausländerpolitik gedrängt hat - ein Vorgehen, das in Regierungskreisen Verblüffung hervorrief -, hat sie keine entscheidende Änderung der Ausländerpolitik erreichen können. Der einflußreiche Anwalt Kirche hat sein Ziel nicht erreicht. Woran mag das liegen? Die Katholische Kirche ist mit einigen Handicaps in die Auseinandersetzung eingetreten, die den Nachdruck ihrer Interventionen beeinträchtigen mußten.

Die Katholische Kirche ist Teil dieser bundesrepublikanischen Gesellschaft und damit direkt und indirekt Nutznießer der bisherigen Form der Ausländerbeschäftigung.

In einem anderen Beschluß der Synode über die Jugendarbeit wird festgestellt, daß die Kirche ihren Haupteinfluß derzeit vor allem in der Mittelschicht und Teilen der oberen Unterschicht ausübe, während sie in den übrigen Schichten und Gruppen nur wenig präsent sei. Zwangsläufig ist sie damit auch stärker an der Interessenlage der ihr nahestehenden Schichten interessiert. Noch selbstkritischer gibt sich die Synode in weiten Passagen des Textes "Kirche und Arbeiterschaft", wenn sie von dem immer noch fortwährenden Skandal spricht, daß die Kirche die Arbeiterschaft verloren hat. Damit fehlt der Kirche der entscheidende Zug zu den Arbeitern, erst recht natürlich zu den ausländischen.

Die Katholische Kirche in der Bundesrepublik ist bekanntermaßen sehr stark mit den tragenden politischen Kräften von CDU und CSU verbunden. Ohne eine der Parteien in der Bundesrepublik entlasten zu wollen, muß festgestellt werden, dass die CDU- und CSU-regierten Länder, die sich mit der SPD und FDP auf eine neue, aber im Grunde nicht wesentlich bessere Ausländerpolitik geeinigt haben, - wie entsprechende Protokolle ausweisen - noch restriktiver gewesen sind, als SPD- FDP-regierte.

Nach Äußerungen von Weihbischof Wöste, dem bisherigen Leiter des Kommissariates der Deutschen Bischöfe in Bonn, gibt es auf höchster kirchlicher Ebene Versuche der scharfen Kritik, die die Kirche bisher an der Ausländerpolitik geübt hat, die Spitze zu nehmen. Im Mai des vergangenen Jahres hat er vor der Katholischen Akademie, Hamburg geäußert, es werde in der letzten Zeit öfters gesagt, der Beschluß der Synode über die ausländischen Arbeitnehmer sei überholt und zwar deswegen, weil er gefasst worden sei in einer Zeit, wo wir einen wirtschaftlichen Boom erlebt hätten. Es ist übrigens ein interessanter Hinweis darauf, daß man auch von der Kirche erwartet, daß sie ihre grundsätzlichen Äußerungen jeweils nach Konjunkturlage abgibt. Weiter sagte Weihbischof Wöste damals; "Vor einigen Tagen wurde mir noch der Vorwurf gemacht, da sei alles abgestimmt auf Integration". Er selbst bedauert es, daß das, was damals in dem Papier grundgelegt wurde, vor allem im politischen Bereich und in der Verwaltung nicht zu entsprechenden Regelungen geführt hat.

Für eine Kirche, die sich für ihren prophetischen Auftrag nicht selbst den Mund verbieten will, scheint derzeit höchste Aufmerksamkeit geboten. Die gemeinsame Konferenz der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken hat einen Beirat "Ausländische Arbeitnehmer" gebildet. Für diesen Beirat soll als ausländerpolitischer Experte der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, berufen werden. Sein Einsatz für die Belange der katholischen Kirche ist unumstritten. Umstritten aber ist seine Benennung für den eben genannten Beirat. Ein anderer Beirat der katholischen Kirche, und zwar der Beirat zum Referat Ausländerseelsorge im Katholischen Auslandssekretariat Bonn, hat die Benennung Stingls für den Beirat "Ausländische Arbeitnehmer" als Provokation bezeichnet, die bedenkliche Reaktionen bei den ausländischen Mitbürgern befürchten lasse. In einem Schreiben an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, haben die Vertreter der Ausländerpfarrer und der Ausländerreferenten in den Bistümern darauf hingewiesen, daß Josef Stingl der Präsident einer Anstalt sei, die für die Durchführung einer von der Kirche kritisierten, restriktiven Ausländerbeschäftigungspolitik verantwortlich sei. Damit gerate Stingl zwangsläufig in einen unaufhebbaren Loyalitätskonflikt. Auch laufe die Kirche bei dieser Berufung Gefahr, mit ihrem Synodenbeschluß, "Die ausländischen Arbeitnehmer.- eine Frage an die Kirche und die Gesellschaft“ unglaubwürdig zu werden.

Der Loyalitätskonflikt, von dem eben die Rede war, ist nicht als Konflikt einer Persönlichkeit zu werten, die im kirchlichen ebenso wie im politischen Bereich tätig ist. Es ist im Grunde ein Konflikt der Kirche selbst. Ihre Möglichkeiten, den Advokat zu spielen sind groß, weil sie stark ist. Gleichzeitig ist sie aber auch schwach, weil eingefügt in ein politisches und gesellschaftliches Umfeld, das es ihr schwer macht, mit denen solidarisch zu sein, die in der gleichen Gesellschaft. ohne Macht sind. Ein Einsatz für die Machtlosen bedeutet Druck auszuüben gegen die Mächtigen, die für die Randsteilung von Minderheiten die Verantwortung tragen. Die Mächtigen werden sich dies nicht ohne weiteres bieten lassen und die Kirche vor die Entscheidung stellen, mit wem sie es letztlich halten will.