Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1986

Asylsuchende
Gegen Mauerbau und Abschreckung
Die Flüchtlinge stellen die Deutschen vor eine Bewährungsproblem


INHALT
Eine zweite "Berliner Mauer" gegen Flüchtlinge wird unter Mithilfe der SPD errichtet. Sie ergänzt die Abschreckungspolitik von Bund und Ländern.

Die Politik gegenüber den Flüchtlingen in der Bundesrepublik ist eine Abschreckungspolitik - und das ist auch durchaus so beabsichtigt. Man will möglichst viele Menschen daran hindern, daß sie das Recht auf Asyl, das ihnen nach Artikel 16 des Grundgesetzes zusteht, auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Die Bundesrepublik soll möglichst stark abgeschottet werden.

In diese Richtung zielt auch die jetzt in Kraft getretene Vereinbarung mit der DDR, nach der Flüchtlinge nur noch dann zum Transit in die DDR einreisen dürfen, wenn sie über ein Anschlußvisum in die Bundesrepublik oder andere Staaten verfügen. Der Kanzlerkandidat der SPD, Johannes Rau, hat es sich auf seine Fahnen geschrieben, den entscheidenden Beitrag für das Zustandekommen dieser Vereinbarung mit der DDR geleistet zu haben. Die Regelung trifft unterschiedslos alle Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, und nimmt ihnen eine weitere Möglichkeit, in der Bundesrepublik Asyl zu erhalten. Die SPD hat sich damit in einen zweifelhaften „Konsens der Demokraten" begeben und sich in der Bundesrepublik einen Berliner Bärendienst erwiesen. Wenn der Pulverdampf dieses Bundestagswahlkampfes verraucht ist, dürfte die Sozialdemokratie mit einer rußgeschwärzten roten Weste dastehen, und Kanzlerkandidat Rau wird die hocherhobene Maurerkelle sinken lassen, mit der er an der zweiten Berliner Mauer gegen Flüchtlinge mitgebaut hat.

Diese Maßnahme ist freilich nur ein Baustein einer umfassenden Abschreckungspolitik. Schon vor Jahren haben Bund und Länder einvernehmlich Regelungen getroffen, um den Lebensstandard für die Asylbewerber zu senken; die Kirchen haben daher immer wieder darauf hingewiesen, daß mit dem Bündel dieser Maßnahmen ein Mindestmaß an Humanität gegenüber den Flüchtlingen nicht mehr gewahrt sei. Zu den Maßnahmen gegen die Asylsuchenden gehören das jahrelange Arbeitsverbot, die Unterbringung in Lagern oder Gemeinschaftsunterkünften, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die finanzielle Zuwendung mit einem eingeschränkten Sozialhilfesatz, der oft nur in Form von Gutscheinen gewährt wird, so daß die freie Wahl von Lebensmitteln und anderen notwendigen Gütern eingeschränkt ist.

Mit einer solchen Abschreckungspolitik werden Menschen instrumentalisiert: Die Flüchtlinge werden politisch benutzt, um durch ihr Beispiel einer eingeschränkten Lebensmöglichkeit andere davon abzuhalten, in die Bundesrepublik zu kommen.

Teil dieser Politik ist die abstruse Vorstellung, daß das Grundgesetz allen Menschen in der Welt das Recht einräumte, in die Bundesrepublik zu kommen und dort einige Jahre auf Kosten der Allgemeinheit leben zu können. Solche Vorstellungen halte ich geradezu für wahnhaft. Das Asylproblem wird, nicht zuletzt als Teil des Wahlkampfes, auf ein Maß vergrößert, das mit der tatsächlichen Bedeutung für die Gesellschaft der Bundesrepublik kaum noch etwas zu tun hat. Man schürt Ängste vor den Flüchtlingen, anstatt sich den Fragen anzunehmen, die für die Bundesrepublik wirklich bedrohlich sind: die Fragen nach der Erhaltung des Friedens, und nach einer intakten Schöpfung, die Fragen nach Arbeitslosigkeit und nach wachsender Armut in der Bundesrepublik.

Schon einmal, Anfang der 80er Jahre, konnte man ähnliche Phänomene wie heute beobachten. Die Fremden - es ging damals in erster Linie um die Türken - wurden in Wahlkämpfen instrumentalisiert und zu Sündenböcken gemacht, wohl wissend, daß sie sich politisch nicht wehren können, weil sie kein Stimmrecht haben.

Damals ist mir zum ersten Mal aufgegangen, wieso es in Deutschland zu jenem verhängnisvollen Umschwung des Jahres 1933 kommen konnte. In der Bundesrepublik gibt es zwar keine Ideologie, die der Weltanschauung der Nazis und der daraus resultierenden Vernichtung des jüdischen Volkes gleichzusetzen wäre, aber die Parallele, daß auf einmal eine bestimmte Bevölkerungsgruppe negativ herausgestellt wird, ist nicht von der Hand zu weisen: Eine Minderheit wird gewissermaßen zur Aggression freigegeben, um eine Aggression gegen die eigentlich Verantwortlichen, die Mächtigen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Abschreckungspolitik gegenüber Fremden steht in einem tieferen Zusammenhang: Der Abschreckung von Flüchtlingen entspricht die Abschreckungspolitik gegenüber äußeren Gegnern, mit der die Aufrüstung mit immer neuen Waffen begründet wird. Es erscheint daher sinnvoll, die Arbeit mit Flüchtlingen in die Friedensarbeit einzubinden. Denn der innere und äußere Frieden hängt letztlich von der Überwindung dieser umfassenden Abschreckungsideologie ab. Die Frage nach dem Umgang mit den Flüchtlingen darf nicht als gesonderte gesellschaftliche Frage betrachtet werden. Wenn wir diese Frage isolieren, handeln wir ähnlich wie die Politiker, die versuchen die Asylfrage als Sonderproblem herauszustellen. Die zahlreichen Initiativgruppen, die in den letzten Monaten entstanden sind und versuchen, sich der Flüchtlinge anzunehmen, werden nur weiterkommen, wenn es ihnen gelingt, das Engagement für die Flüchtlinge in den großen universellen Rahmen der Friedensarbeit zu stellen. In diese Richtung müssen auch die Bemühungen der Kirche gehen: Sie muß sich selber als universale Friedensgemeinschaft sehen, die daran arbeitet, bereits hier und jetzt jene umfassende Gemeinschaft zu verwirklichen, auf die wir eschatologisch (als endzeitliche Verheißung) hoffen.

Die Kirche hat einen weltumspannenden Charakter. Wenn der Papst oder die Bischöfe sich kraft ihres Amtes zum Flüchtlingsproblem und zur Ausländerfrage äußern, dann tun sie das vor dem Hintergrund ihrer weltkirchlichen Einbindung und sie versuchen, dabei nationalistische Beschränktheit zu überwinden. Ich habe den Eindruck, daß die Bischöfe in dieser Frage weiter denken als die meisten katholischen Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik: Viele von ihnen orientieren sich eher an den Aussagen der deutschen Politiker als an den Aussagen ihrer Bischöfe und des Papstes.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, wenn etwa der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, immer wieder auf den Zusammenhang zwischen der Anwesenheit der Flüchtlinge hier und den ungelösten Problemen der Entwicklungspolitik hinweist. Denn die Abschreckung von Flüchtlingen ändert nichts an den Ursachen, die die Betroffenen zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Eine ernsthafte Asylpolitik kommt deshalb nicht umhin, sich der Frage zu stellen, wie eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung verwirklicht werden kann. Das würde letztlich bedeuten, daß die Bundesrepublik aufhören muß, die Welt für ihre nationalen Wirtschaftsinteressen zu benutzen.

Christen sind dazu verpflichtet, sich an die Seite der Flüchtlinge zu stellen. Gott ist Mensch geworden, um seine tiefe Solidarität mit den Armen deutlich werden zu lassen. Jeder Christ muß sich in diese Bewegung Gottes zum Menschen, besonders zu den Armen, hineinstellen. Wer sich an die Seite der Bedrängten stellt, muß gewärtig sein, daß er dann auch selbst zu den Machtlosen gerechnet wird, zu denen, die verachtet und angegriffen werden. Dies ist ein Teil des Schicksals Christi.

Die Gemeinden können die Wahrheit des Evangeliums bezeugen, wenn sie Verständnis und Respekt vor der vollen Menschenwürde der Flüchtlinge entwickeln. Die Anwesenheit der Flüchtlinge und von Menschen verschiedener Nationalität ist eine Chance auf überraschend neue Weise die Universalität der Kirche zu erfahren. Denn den Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen und annehmen, eröffnet sich bereits im Kleinen der Horizont auf eine Weltgemeinschaft hin. Eine solche Gemeinschaft ist die Form, in der nicht nur die Kirche, sondern auch die Menschheit leben wird. Im Miteinander und im Zueinander fängt unter uns eine neue Form des Zusammenlebens an. Diese neue Form der Gemeinschaft geht über eine Hilfestellung für die Schwächeren hinaus: Sie ist geprägt von Freundschaft und Partnerschaft, die beglückende Erfahrungen möglich machen - Erfahrungen von mehr Leben, von freierem und befreiterem Leben.

veröffentlicht in:
Publik-Forum
Zeitung kritischer Christen
Nr. 20, 10. Oktober 1986, S. 3-5