Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1989

Die theologische Basis für die Arbeit der Kirchen mit Flüchtlingen
Dilemma und Herausforderung
Englisch


INHALT

 

1. Gott als Betroffener

Millionenfach steigt das Stöhnen und Schreien der Flüchtlinge um Befreiung und Heil zum Himmel empor; und Gott hört wie zur Zeit des Mose das Schreien seines Volkes und aller unterdrückten Menschen; und wie damals zu Mose spricht er heute zu seinem Volk: „Ich habe das Elend meines Volks, das in Ägypten ist, wohl gesehen, und das Stöhnen über ihre Unterdrücker habe ich gehört; ja, ich kenne seine Leiden. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der Gewalt der Ägypter zu befreien und es aus diesem Land herauszuführen in ein schönes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt." (vgl. Exodus 3,7-12). Wie damals gibt Gott in unseren Tagen den Auftrag: „So geh nun! Ich will dich zum Pharao senden. Führe mein Volk aus Ägypten heraus". Dabei könnte es sein, daß wir wie Mose sprechen: „Wer sind wir denn, daß wir zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen?". Es gibt nur die einzige Antwort, die den Auftrag Gottes unterstreicht: „Ich werde mit dir sein. Und dies soll dir als Zeichen dienen, daß ich es bin, der dich sendet... Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott auf diesem Berg verehren".

Dies wird der Berg sein, wie ihn Jesaja geschaut hat (vgl. Jes 2,2-4), „der fest gegründet steht an der Spitze der Berge und erhaben ist über die Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Dorthin pilgern viele Nationen und sprechen: Auf lasst uns hinaufziehen zum Berg Jahwes, zum Haus des Gottes Jakobs. Dann wird er richten zwischen den Völkern und vielen Nationen Schiedsrichter sein. Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer wird Volk gegen Volk zum Schwert greifen; üben wird man nicht mehr zum Krieg".

&xnbsp;Gott hat sich im brennenden Dornstrauch als betroffen vom bedrückenden Schicksal seines Volkes gezeigt. Er geht als Betroffener in die Geschichte des Volkes Israel ein. Sein Name ist Bekundung von Solidarität: Ich bin herabgestiegen. Ich komme, Ich bin da, Ich bin betroffen, Ich teile euer Schicksal und wende es. Gott handelt als Betroffener. Als seinen Gesandten wählt er einen Betroffenen, einen Flüchtling, der im Zorn einen der Bedrücker umgebracht hatte und außer Landes gehen mußte. Aus Ägypten hat Gott seinen Sohn berufen (vgl. Mt 2,15), um den endgültigen Anbruch der Endzeit anzusagen. Jesus Christus bezieht das Wort des Propheten Jesaja auf sich, wonach er gesandt ist, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen, Befreiung den Gefangenen zu künden, Geknechtete in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen (vgl. Lk 4,18f). Auch er ein Flüchtling und Fremder, der vor den Toren der Stadt für die Botschaft der Befreiung und Erlösung hingerichtet wird, aber aus der Unterwelt des Todes aufsteigt und die vom Tode Versklavten befreit. Er wird wiederkommen, um das Gericht der Endzeit zu halten, bei dem alle Völker sich vor ihm versammeln, und wo er nach denen fragt, die ihn als Gefangenen und Flüchtling erkannt und behandelt haben (vgl. Mt 25,36).

2. Die Betroffenheit der Kirche

2.1 Die Exodus-Erfahrung

 

Das Volk Israel wird später immer wieder von den Propheten gemahnt, die Fremden im eigenen Land nicht zu bedrücken. Sie suchten das Volk betroffen zu machen, indem sie an die Vergangenheit in Ägypten erinnerten. Der Exodus, die Flucht aus dem Land der Unterdrückung gehört zu den zentralen Erinnerungen des Volkes, hat sich unauslöschlich eingegraben in das kollektive Gedächtnis Israels. Diese Erfahrung wird immer wieder lebendig und wirksam bei der Feier des Osterfestes.

Der Christ gehört dem Volk Gottes an, das in spezifischer Weise in den Spuren des Volkes Israel wandelt, eines Volkes, welches die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten erlangte und in seiner Wanderung zum Gelobten Land am Plan Gottes mitarbeitete. Nach der Auferstehung des Herrn ist das Leben des Christen ein mit Christus gelebter Übergang vom Tod zur Auferstehung, eine Auswanderung aus der Versklavung dieser Welt und ein Einzug in das Herrschaftsgebiet Gottes, wo alles und alle in Christus neu erschaffen werden.

Zwischen dem Exodus aus Ägypten, dem Land der Unfreiheit und Unterdrückung und der eschatologischen Versöhnung aller Völker vollzieht sich der Auftrag der Kirche gegenüber den Exilierten. Dabei kann sie als Gemeinschaft der Exilierten, aber auch als Gemeinschaft der Befreiten angesehen werden. Es besteht eine tiefe Gemeinsamkeit und Solidarität mit dem Flüchtling. Dies müßte sich in einem Gefühl gegenseitiger Bekanntschaft, Nähe und Schicksalsgemeinschaft ausdrücken.

Es gibt aber auch noch ein sehr gegenwartsbezogenes Faktum, das die Kirche in der Welt und damit auch uns in eine unmittelbare Betroffenheit hineinzwingt. Es ist das Phänomen, daß die Kirche in unzähligen Tausenden ihrer eigenen Mitglieder zur Flucht gezwungen wird. Damit ist nicht die spirituelle Heimatlosigkeit gemeint, sondern das Phänomen, daß diese Kirche auf allen Kontinenten auf der Flucht ist, daß sie das Schicksal des Flüchtenden also selbst erleidet.

In dieser Sicht ist der Flüchtling Zeichen prinzipieller Exilierung und Heimatlosigkeit des Christen. Er wird für die Kirchen zum Mahnzeichen der Umkehr bei allzu großer Seßhaftigkeit und Anpassung an die ungerechte Welt.

2.2 Die Christen als Fremde

Das Lebensgefühl der Christen war zumindest in den ersten Jahrhunderten ein zwiespältiges, ambivalentes. Sie bewohnten jeder sein Vaterland, aber wie Beisassen, wie Schutzverwandte, also wie nicht ganz dazugehörige Nebenbürger, sie nahmen an allem wie die (Voll-)Bürger teil, ertrugen aber alles wie Fremde. Dies ist eine Beschreibung aus dem Diognet-Brief, in dem es wörtlich heißt: „Jede Fremde ist ihr Vaterland und jedes Vaterland Fremde".

Von Anfang an haben sich die Christen als in dieser Welt lebende Fremde, als Beisassen, als Paroiken (Parochia, später Pfarrei) verstanden und die christliche Gemeinde als Gemeinschaft von Fremden und Beisassen aufgefaßt, die letztlich nirgendwo hingehören und doch überall zuhause sein können.

Diesem Fremdsein in den politischen und gesellschaftlichen Strukturen entspricht ein letztes Zuhausesein, das als Himmel umschrieben wird und das in der Gemeinschaft der Kirche bereits seinen Anfang nimmt. Paulus beschreibt diese neue Heimat in einem Brief an die Gemeinde in Ephesus, einer Stadt, aus der er heimlich fliehen mußte: „Ihr seid nicht mehr Fremde und Nebenbürger, sondern Mitbürger der Heiligen und gehört zum Hause und zur Familie Gottes" (Eph 2,19). Die Wende kam mit Kaiser Konstantin, der 313 mit dem Edikt von Mailand den Übergang des Christentums von einer Religion der Fremden und Heimatlosen zur Staatsreligion einleitete und dazu beitrug, daß sich die Christen im Staat nicht mehr als Beisassen, sondern als Vollbürger verstanden, und von da an versuchten als Vollbürger in zwei Reichen, in dem dieser Welt und in dem des Himmels zu leben. Dabei wird der Fremde wieder in klassischer Weise der Andere, der Nicht-Zugehörige, zu dem die Christen ihr genuines Verhältnis suchen müssen, ohne es bis auf den heutigen Tag gefunden zu haben. Dies gehört zum Dilemma der Kirche gegenüber den Fremden und gerade gegenüber den Flüchtlingen.

2.3 Die Universalität der Kirche

Eine weitere Dialektik macht in der Gemeinde den Fremden zum Nahen, zum Gruppenfreund. Dabei wird aus dem Neuen Israel, wie sich die Christen verstehen, eine Gemeinschaft aus allen Völkern und Nationen, wo es nicht mehr heißt, Heide oder Jude, beschnitten oder unbeschnitten, Barbare, Skyte, Sklave oder Freier (Kol 3,11). Damit gelten Vorstellungen als eingelöst, auf die der Glaube Israels als auch die Erfüllung dessen, was Abraham versprochen war, eingestellt war und die durch die Propheten immer wieder wachgehalten wurden. Sie basieren auf der Überzeugung, daß alle Menschen Geschöpfe Gottes sind und zu einer Menschheitsfamilie gehören. Die eschatologische Erfüllung der Einigung aller Menschen wird in der Universalität der Gesamtkirche und jeder Gemeinde vorweggenommen. Die Vorstellungswelt des Christen und sein Handlungsrahmen ist die Welt.

Dies bezieht sich auch auf die Rechte des einzelnen Menschen. Der Flüchtling hat nicht nur einen humanitären Titel um in jedem Land aufgenommen zu werden, sondern nach christlicher Auffassung auch einen Rechtstitel, insofern die Welt Besitz aller Menschen ist. Dies gehört zu einer alten durch Kultivierung des Privatbesitzes und des Nationalstaatsprinzips verdrängten christlichen Tradition, wie sie etwa bei Ambrosius, dem Bischof von Mailand, im 4. Jahrhundert zum Ausdruck kommt: „Der Herr hat gewollt, daß diese Erde der gemeinsame Besitz aller Menschen sei und daß ihre Früchte allen gehören." Nach christlicher Auffassung ist die Erde dafür da, um jedem die Mittel für seine Existenz und seine Entwicklung zu geben. Jedem Menschen steht das Recht zu, auf ihr das zu finden, was er nötig hat. Wenn schon Menschen gezwungen sind ihre Heimat zu verlassen, muß deutlich werden, daß sie Mitglieder der Menschheitsfamilie und Bürger einer universalen Gesellschaft und der Gemeinschaft aller Menschen sind. Wichtig dabei ist, daß die Kirche diese Auffassung nicht nur als intern verpflichtendes Glaubensgut betrachtet und damit alle Christen in der Welt festgelegt sind, die Flüchtlinge auch mit diesem Rechtstitel aufzunehmen, sondern daß diese Auffassung in einen menschenrechtlichen Rang gehoben wird. Dadurch sieht sich die Kirche verpflichtet, dazu beizutragen, daß diese Vorstellung auch in den internationalen Verträgen und Abkommen ihren Niederschlag findet.

3. Das Tun der Kirche

3.1 Den Flüchtling in seiner Würde achten

Die wichtigste Weise, die Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen, ist das Verständnis von und der Respekt vor der vollen Menschenwürde des Flüchtlings, wie er sie als Mensch und Geschöpf Gottes in den Augen Gottes besitzt. Es bedeutet nichts anderes, als im Antlitz jedes Flüchtlings das Antlitz Jesu zu entdecken, der durch die Inkarnation eins mit der gesamten Menschheit geworden ist. Der Flüchtling hat einen christlichen und menschenrechtlichen Anspruch darauf, jederzeit in seiner vollen Personwürde gesehen und behandelt zu werden. Dies hat zu geschehen ungeachtet der Rasse, Sprache, Religion, des Geschlechts, der politischen Überzeugung oder der sozialen Stellung.

Die Kirchen müssen daher vom Aufnahmestaat verlangen, daß der Flüchtling in jeder Phase seines vorübergehenden oder dauernden Aufenthalts menschenwürdig behandelt wird. Das bezieht sich auf die Möglichkeit um Asyl nachzusuchen, auf ein faires, rechtsstaatlich abgesichertes Asylverfahren, auf die Unterbringung, den Schutz vor Verfolgung, die Entfaltung der Persönlichkeit und eine angemessene Zukunftssicherung.

Dabei müssen die Kirchen sehr darauf achten, daß die Definition, wer als politischer Flüchtling anerkannt werden kann, nicht aus außen- oder innenpolitischen, geschweige denn aus wirtschaftlichen, nationalistischen oder rassistischen Gründen eingeschränkt wird.

"Während sich die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen allerdings nur auf Menschen bezieht, die aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung fliehen, tendieren die Kirchen zu einer umfassenderen Definition des Flüchtlings; sie verlangen und gewähren auch Hilfe für Menschen, die ihre Heimat wegen Naturkatastrophen, Bürgerkriegsunruhen, Kriegen, ethnischer, rassischer, religiöser und politischer Unterdrückung oder auch wegen wirtschaftlicher Verhältnisse verlassen, die ein menschenwürdiges Leben des einzelnen und der Familie nicht mehr garantieren. Dabei sieht die Kirche nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die Familien und die Minderheiten, die durch die genannten Ereignisse betroffen werden, als schutzwürdig an. Eine besondere Zuwendung der Kirche gilt den Menschen, Familien und Gruppen, die geflüchtet sind, aber im Aufnahmeland nicht als eigentliche Flüchtlinge anerkannt werden. Ihre Hilflosigkeit fordert die Kirche in besonderer Weise heraus, um auch ihnen eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen.

Exemplarische Solidarität mit den Glaubensgenosslnnen verweist darauf, daß Solidarität mit den flüchtenden Menschen über die Grenzen der Kirche hinausreicht, da ihr in jedem Menschen Christus begegnet. Christen sind von einer Liebe erfaßt, die trotz der Abstammung, Religionszugehörigkeit oder politischen Überzeugung des anderen keine Ausnahme macht, die keine Ausnahme kennt. Es geht um die' Liebe, die im anderen den Bruder oder die Schwester in Not sieht und nur auf eines bedacht ist: auf die unmittelbare Achtung und Hilfe, wie sie dem Nächsten geschuldet ist.

Dabei sind die Flüchtlinge um ihrer selbst willen und nicht aus irgendeinem anderen Motiv oder Grund zu bejahen: Dies schließt vor allem auch das Motiv aus, unter den Menschen anderer Weltanschauung und anderen Glaubens Proselyten im negativen Sinn des Wortes zu machen. Es würde die tiefe Mission der Kirche gegenüber allen Menschen eher gefährden als ihr entsprechen.

3.2 Die Stimme der Stimmlosen sein

Das Schreien und Klagen der Flüchtlinge, das zum Himmel steigt, wird nur dort gehört; denn die Stimmen der Flüchtlinge sind stimmlos für die, die sie vertreiben und für die Staaten, wo sie Zuflucht suchen. Diese Stimmlosigkeit gilt auch für die Staaten mit demokratischen Freiheiten, da die Flüchtlinge ebenso wie die Fremden keine Wahlstimme haben und damit für die unmittelbaren Mehrheitsentscheidungen keinerlei Rolle spielen, es sei denn die, daß die Politiker sich an einer eher abwehrenden Stimmung der einheimischen Bevölkerung orientieren. Daß die, die mit den Stimmlosen solidarisch sind, diesen ihre Stimme leihen, ist ein zentrales Bedürfnis der Flüchtlinge. Die Berufung der Kirche, den Stummen die Sprache zu geben, ist der prophetischen Heilsansage zuzuordnen. Sie ist in erster Linie eine Heilszusage Gottes an die Flüchtlinge selbst, daß Gott sie nicht vergessen hat, ihre Not kennt und für Abhilfe sorgt. Diese Zusage macht Jesus Christus, der Prophet in seiner Kirche und durch seine Kirche als dem Instrument der Heilsansage und des Heilshandelns Gottes. Heilsansage und Heilshandeln, Verkündigung und Heilung stehen bei Jesus Christus in einem so engen Zusammenhang, daß eine rein rhetorische Heilsansage ohne wunderhafte Veränderungen da, wo das Wort Gottes ausgerichtet, unmöglich ist, bzw. die Kirche unglaubwürdig macht. D. h. der solidarische und prophetische Dienst der Kirche gegenüber den Flüchtlingen ist nicht nur auf Veränderung der .Verhältnisse eingestellt, sondern bringt diese Veränderung zeichenhaft exemplarisch und auf die endgültige Vollendung hinweisend hervor. Die Heilszusage der Kirche an die Flüchtlinge ist gleichzeitig eine Kritik an den Mächtigen: Ähnlich wie Amos wird die Kirche den Palästen von Assur und den Palästen des Landes Ägypten sagen: „Versammelt euch auf dem Berge von Samaria und seht euch an die große Unordnung darin und die Bedrückung in eurer Mitte! Sie verstehen nicht redlich zu handeln." (Am 3,9-10).

Mit den Mächtigen sind die maßgeblichen und gesellschaftlichen Kräfte in den Ländern gemeint, in denen Menschen zur Flucht gezwungen werden, ist eine Weltgemeinschaft gemeint, in der die Weltunordnung ein Interessengeflecht ist, bei dem die Staaten, die Flucht auslösen, mit denen liiert sind, zu denen die Flüchtlinge ohne wirkliche Alternativen zu fliehen gezwungen sind. Einzuklagen hat die Kirche in zentraler Weise die Einhaltung und Respektierung der Menschenwürde und ihre Stimme prophetisch zu erheben, wo diese Menschenwürde verletzt oder nicht respektiert wird.

Die Kirche sieht als Anwalt der Schwachen die schwierige Aufgabe des Staates, die sich politisch und juristisch aus der Aufnahme, Unterbringung und rechtlichen Behandlung einer großen Zahl von AsylbewerberInnen ergibt. Trotzdem erfüllt die Kirche in ihrer prophetischen Funktion ein Wächteramt und ist „Anwalt der Menschlichkeit". In der öffentlichen Diskussion aber steht die Kirche als Anwalt der Schwachen, mit denen sie sich solidarisiert hat, zu allererst auf deren Seite. Sie macht sich deren Anliegen und Leiden zu eigen. Dies bedeutet, daß die Kirche nicht nur die Anliegen vertritt, sondern sie zu den ihren macht, also so zu denken, zu sprechen, zu handeln versucht, als sei sie selbst AsylbewerberIn. Sobald die Kirche dies konsequent versucht, kann es dahin kommen und sogar unumgänglich werden, ihre eigenen Interessen und die der Mehrheit der Gläubigen zurückzustellen.

3.3 Zu Konflikten bereit sein

Vielleicht ist Solidarität und Hilfe nur so lange selbstverständlich, wie es nicht an die eigene Substanz geht bzw. soweit nicht eigene elementare Interessen berührt sind. So kann die kritische Frage aufgeworfen werden, ob die Kirche sich nicht zu sehr um die Asylbewerberinnen bemühe und zu stark in die öffentliche Auseinandersetzung eingreife. Natürlich wird der Kirche nicht das Recht abgesprochen zu helfen, unmittelbare Notfallhilfe zu leisten und das zu tun, was in unseren Gesellschaften als spezifisch karitativ angesehen wird. Die Sozialdienste der Kirche sind nach wie vor hochwillkommen; dies aber nur dann und in dem Umfang, wie es den politischen Zielvorstellungen und Rahmenbedingungen entspricht. Diese politische Einstellung mit der entsprechenden Sicht vom karitativen Dienst der Kirche wird von der breiten Öffentlichkeit meist vorbehaltlos übernommen. Das wiederum hat seine Auswirkungen in die Kirche hinein. Schließlich leben ihre Glieder in ihrer Gesellschaft und identifizieren sich allzuleicht mit deren Interessen. Es sind Menschen mit den gleichen Optionen, wie sie die von ihnen gewählten Politiker haben. Daher ist es fast zwangsläufig, wenn sie deren politische Zielvorstellungen und Plausibilitäten übernehmen. Sobald diese nicht den kirchlichen entsprechen, ist eine Auseinandersetzung erforderlich.

Es handelt sich dabei um einen kaum vermeidbaren Konflik. Er rührt zuerst einmal daher, daß die Kirchen immer stärker zum Partner des Staates im Flüchtlingsbereich geworden sind und von diesem als sein verlängerter Arm betrachtet und finanziert werden. Damit wachsen die Schwierigkeiten für die Kirchen, ihre Funktion als Anwalt ohne falsche Kompromisse auszuüben und die Zusammenarbeit mit dem Staat zum Nutzen der Flüchtlinge nicht zu gefährden. Dies kann aber nur zur Konsequenz haben, daß die Kirche im Konfliktf all auch der möglichen Drohung des Staates widersteht, seine finanziellen Mittel zu kürzen oder zu streichen, und eindeutig auf der Seite der Flüchtlinge steht. Andernfalls würde sie ihren biblischen Auftrag gefährden und zum Komplizen des Unrechts werden.

Inhaltlich sind solche Konflikte deswegen unvermeidlich, weil die Kirche der Person mit ihrer Würde und ihren Rechten Vorrang gibt, während der Staat bei seinen Interessen die Priorität sieht, vielleicht auch sehen muß. Der allfällige Interessenausgleich wird dann allerdings zumeist auf Kosten der Schwächeren und Schwächsten vorgenommen. Hiergegen muß immer und überall Protest eingelegt werden.

4. Das gemeinsame Handeln

4.1 Die Gemeinde

Unabhängig davon, daß die Kirche eigene Organisationen und Institutionen für die Sorge um die Flüchtlinge schafft, ist das ganze Volk Gottes aufgerufen, christliche Solidarität mit den Flüchtlingen zu üben. Authentischer Ort des Heilshandelns Gottes und damit christlicher Solidarität ist die Gemeinde der Erlösten und Befreiten. Sie ist der Ort, wo die Universalität der Kirche in der Annahme aller Menschen ursprünglich erfahren werden kann. Der tiefsten Not und Sehnsucht der Flüchtlinge, Gehör zu finden und sich als Mensch angenommen zu fühlen, kann am ehesten in der Gemeinde entsprochen werden, die selbst alle rassistischen und nationalistischen Vorurteile überwunden und ein tragendes Gespür für die Gleichheit und Einheit aller Menschen entwickelt hat. Sie ist in der Verkündigung, im Gebet und in der Anwaltschaft unmittelbar Stimme der Stimmlosen, ja sie gibt im direkten Kontakt den Stimmlosen ihre ganz persönliche Stimme zurück, beläßt sie nicht ihrer Stummheit. Es geht um eine neue Art des Zusammenlebens und der Partnerschaft, wie sie Ausdruck einer lebendigen Gemeinde ist. Die Gemeinde wird zum Ort, wo ohne Grenzen und Barrikaden Menschenfreundlichkeit und Heil erfahren werden. Die Partnerschaft mit den Flüchtlingen schließt den Beistand in den verschiedensten Lebenssituationen ein. Es sind aber vor allem Gespräche, regelmäßige Zusammenkünfte, die Feier von Festen und Gottesdiensten, die Freundschaften entstehen lassen und bei den Flüchtlingen das Empfinden wecken können, nicht betreut, sondern akzeptiert zu werden.

Eine wichtige Aufgabe sieht die Gemeinde schließlich darin, andere engagierte oder zum Engagement bereite Gemeinden oder Gruppen über die eigenen Erfahrungen zu informieren und möglicherweise zu einer ähnlichen Solidarität zu bewegen. Öffentlichkeit soll diesem Anliegen dienen, aber auch eine positivere Einstellung in der Bevölkerung und bei verantwortlichen Politikerinnen bewirken. Die Ansprechbarkeit für diese Not ist besonders bei Christen gegeben, die von sich aus aktiv werden können und leicht aktivierbar sind. Dies gilt kaum von der Mehrheit der Gemeindemitglieder oder der Gemeinden. Sie tun sich sehr schwer, weil sie kaum in der Lage sind, das politische, in den Massenmedien vermittelte Bild des Flüchtlings zu hinterfragen. Bei dem ansprechbaren Teil handelt es sich erfahrungsgemäß um Menschen und Christen, die von ihrer Einstellung und Motivation her in der Lage sind, selbstständig und kritisch auf ihre Umwelt und auch auf die öffentliche Meinung zu reagieren, und über zeitliche, physische und psychische Reserven verfügen, um sich auf ein kontaktintensives, aber auch konfliktorientiertes Engagement einzulassen. Sie verstehen sich darauf, ihre Vorstellungen in einer Gruppe und in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Die besondere Bedeutung dieses Personenkreises ist darin zu sehen, daß er die Werte des Christlichen in einer überschaubaren Gemeinschaft leben will, aber durchaus in der Lage ist, dies mit einer universalen Perspektive zu tun.

4.2 Die kirchlichen Hilfsorganisationen

Der Dienst der Kirche für die Flüchtlinge ist ohne eigene Organisationen nicht denkbar. Sie erfüllen auf kompetente Weise, ähnlich wie andere staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen eine entscheidende Aufgabe. Diese Dienste unterscheiden sich in Zielsetzung, Einsatz und Methode nicht von den vergleichbaren anderen Diensten. Es ist eher eine Frage der christlichen Motivation der Mitarbeiter und deren Bereitschaft in Bereichen tätig zu werden, die gesellschaftlich noch nicht genügend gesehen werden oder für die, gleich aus welchen Gründen, keine öffentlichen Mittel gegeben werden. Dies dürfte sich vor allem auf die Flüchtlinge beziehen, die nicht anerkannt werden und dennoch im Lande verbleiben, aber auch auf Bereiche, in denen der Staat Sozialarbeit nicht vorgesehen haben will.

Die christlichen Hilfsdienste sollten sich auszeichnen durch eine hohe Bereitschaft der Kooperation mit allen Menschen guten Willens und allen christlichen und nichtchristlichen humanitären Organisationen. Ihre Dienste sind keinesfalls ein Ersatz für die Verantwortung der übrigen Kirche, vor allem der Gemeinden und Pfarreien. Sie sollen diesen durch ihr Fachwissen, ihre Informationen und übergreifenden Kontakte behilflich sein, ihren christlichen Beitrag zu leisten.

4.3 Ökumenische Zusammenarbeit

Weder die Solidarität mit den Flüchtlingen noch die Wahrnehmung der Anwaltschaft für diese ist in das Belieben der Kirchen gestellt, sondern ist zentraler Auftrag des Evangeliums. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit der Kirchen und Gemeinden untereinander. Durch die gemeinsame Solidarität und Anwaltschaft, durch die bewußte Zusammenarbeit auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene wird eine weitere Schranke niedergerissen, die die Kirchen davon fernhält, das Zeichen der Einheit unter den Völkern zu sein. Gemeinsames Tun, gleiches Fühlen und Beten sind Ausdruck einer wachsenden Einheit der Christen. Nicht zu unterschätzen ist auch die damit einhergehende Verbesserung der Kommunikation, des Austauschs von wichtigen und hilfreichen Informationen, die eigentlich nur der selbstverständliche Reflex einer größeren Communio sind. Gemeinsames Engagement gegenüber Menschen aller Religionen, Rassen, Nationen und Völker unterstreicht die Verantwortung einer auf die ganze Welt ausgerichteten und sie umfassenden Ökumene. D. h. die Glaubwürdigkeit und Kompetenz der Kirche wird durch ein einheitliches Engagement gegenüber asylsuchenden Menschen nach innen und außen nachhaltig unterstrichen. In einem Maße und in einer Art wie in kaum einem anderen Bereich wird die Erfüllung des Willens Gottes beschleunigt, Menschen aller Rassen und Kulturen unter seiner Herrschaft zu einen und zu einer großen Menschheitsfamilie zusammenzuführen.