Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1994

Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt
vom 6. Mai 1994
PORTRÄT
Rufer in der Wüste
Herbert Leuninger,
Sprecher von Pro Asyl,
meldet sich zu Wort, wenn er die Rechte von Flüchtlingen
in Deutschland gefährdet sieht. Immer häufiger führt sich der katholische Theologe dabei von den Kirchen im Stich gelassen

Sein Lächeln kommt so plötzlich und so herzlich, daß man stutzt. Diese kleine Erinnerung an den Bischof aus Rom, der einst im Frankfurter Bahnhofsviertel in einem jener „zweifelhaften Etablissements" unterkam, schafft es, ihm für einen Moment das Lächeln in die Augen zu treiben. Ist das derselbe Mann, der eben noch, in sich gekehrt, den Verlust von Menschlichkeit beklagte? Doch kein Zweifel: Es ist Herbert Leuninger, Sprecher der bundesweiten Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, der da in seinem Büro sitzt: schmal, von kleiner, sehniger Statur, mit hellen Augen, die so unvermutet leuchten können.

Sonst aber ist Herbert Leuninger meist ernst, zumal um zehn Uhr morgens. Dann hat er, von Haus aus katholischer Pfarrer, bereits zwei Stunden Zeitungslektüre hinter sich, um auf dem Laufenden zu sein. Und - zur Not aus dem Stegreif - zu „zehn bis 15 Themen" Stellung nehmen zu können. Zum Beispiel die Rückführung Zehntausender kroatischer Flüchtlinge. Das sei ohne ein wirtschaftliches Rahmenprogramm nicht zu verantworten, kritisierte er gerade ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Kroatien.

Leuninger ist ein vielgefragter Mann. Der Mann, der vor knapp zehn Jahren mit einem mehrtägigen Fasten erfolgreich gegen die unwürdigen Zeltbehausungen für Flüchtlinge im hessischen Aufnahmelager Schwalbach kämpfte oder - noch früher - seinem Bischof fast die Mitra kostete, weil er ein Jugend-Meßfestival veranstaltete -dieser Mann hat der Flüchtlingsorganisation einen unverwechselbaren Namen gemacht. Zeitungen bitten zu Wort, wenn es Gesetzespläne zu kommentieren gilt oder die traurige Wirklichkeit in den Flüchtlingslagern und an den Grenzen. Pro Asyl - die Organisation ist, mit ihm als Sprecher, zu einer leidenschaftlichen Stimme gegen die Unmenschlichkeit in der deutschen Flüchtlingspolitik geworden.

Daß beide Kirchen, die evangelische wie die katholische, eingeschwenkt sind auf Regierungskurs und den „Asylkompromiß" im letzten Jahr gebilligt haben, macht ihn mehr als nur zornig. Von seiner eigenen fühlt er sich verlassen, vielleicht sogar verraten - nach all der Verheißung, die das Zweite Vatikanische Konzil bedeutete! Damals, erinnert sich Herbert Leuninger erregt, habe die Kirche ihre Aufgabe darin gesehen, „Stimme der Recht- und Stimmlosen zu sein". Davon ist wenig übriggeblieben: „Die Kirche hat diesen Aufbruch nicht durchgestanden."

Ihn aber hat das Zweite Vatikanische Konzil geprägt - so sehr, wie ihn sonst nur; noch der Sozialkatholizismus seiner Familie aus Köln und der Terror der Naziherrschaft geprägt haben. „Jung und unpolitisch", aber beseelt von der Idee einer möglichen und nötigen Demokratisierung der Kirche, war der Priester bereit, dafür. zu kämpfen.

In Kriftel, einer Gemeinde bei Frankfurt, schaffte er Anfang der siebziger Jahre, nur mit hauchdünner Mehrheit von der Pfarrgemeinde unterstützt, die vielgeliebte Fronleichnamsprozession ab. Das Relikt, „exotisch, aber inhaltsleer", wich einem Gottesdienst an einer Kapelle. Die Mehrheit trug nicht - der Aufruhr in der Gemeinde war beträchtlich. Das sei sein „erster großer strategischer Fehler" gewesen und der „Anfang vom Ende" seiner Tätigkeit als Gemeindepfarrer, meint Leuninger heute dazu. Er hätte damals „die Demokratie bis zum Exzeß getrieben". Mehrheit wäre eben Mehrheit. Heute würde er, in einer vergleichbaren Situation, „auf Konsens setzen".

Das, was man auch als Altersweisheit eines 62jährigen ansehen könnte, gilt längst nicht immer. In der Frage „Wie gehen wir hierzulande mit Flüchtlingen um?" gibt es für Herbert Leuninger keinen Suche nach Konsens. Für sein Credo "Niemand sollte sich im Stich gelassen fühlen" ist er bereit, Konsequenzen auf sich zu nehmen, zu hungern und zu streiten. So ließ er sich in den 20 Jahren seiner Arbeit als Ausländerreferent des Bistums Limburg stets nur die Hälfte seines Lohns auszahlen, um damit „meinen Beitrag gegen die Arbeitslosigkeit zu leisten", wie er schmunzelnd anfügt. Diese angesparte zweite Hälfte kommt seit acht Jahren Pro Asyl zugute, die so das Gehalt ihres Sprechers spart.

Jemand wie er, bescheiden für sich selbst, kompromißlos im Einsatz für die „Recht- und Stimmlosen", eckt an und gilt so manchem als personifizierte Provokation. Burkhard Hirsch hat ihn einmal einen „Fanatiker" genannt, weil Leuninger Flüchtlinge als „Botschafter des weltweiten Unrechts" bezeichnet hatte, denen eine besondere Form der Ehrerbietung gebühre. Sie seien, „theologisch gesprochen, Engel und Verkünder", wiederholt der Pfarrer seine These von damals. „Wir aber behandeln sie wie den Boten der Antike, der wegen seiner schlechten Nachricht umgebracht wird."

Auch er selbst wird nicht selten attackiert, mit Drohungen und Steinen von rechts. Doch nicht daß er angegriffen wird - „bei dem, was ich mir alles leiste!" -, wundert Leuninger, sondern daß es nicht häufiger geschieht. Vielleicht gebe es viele Menschen, auch Konservative, die Respekt hätten vor seiner so sicheren Überzeugung, das Richtige zu sagen und zu tun. Diese Zurückhaltung, ihn schärfer anzugehen, obwohl er politisch zum Gegner gehört, wertet er als heimliche, „stille Zustimmung" zu den Positionen, für die er eintritt. Trotzdem fühlt er sich mehr denn je als einsamer Rufer in der Wüste.

Vor zehn Jahren sei es ihm noch gelungen, wie er sagt, seine Kirche in Fragen der Ausländer- und Flüchtlingspolitik „auf Linie zu halten". Als es der sozialliberalen Regierung Anfang der achtziger Jahre darum ging, die Familienzusammenführung, die vor allem Türken betroffen hätte, nahezu unmöglich zu machen, bekam er Rückendeckung von Rom. Der Vatikan ließ sich von seinem Argument überzeugen, zu einem Migranten gehöre auch seine Familie. „Damals", sagt er und reißt die Augen ein wenig weiter auf, „war ich drin, war ich sehr stark drin in der katholischen Kirche!" Heute ist das anders.

Manchmal, sagt er, fühle er sich als „Narr, der an Positionen festhält, auf denen sonst niemand mehr ist". Daß ihm mit dem Golfkrieg seine lebensbestimmende Hoffnung - die „Pazifizierbarkeit des Menschen" - abhanden kam, ist für ihn eine, Katastrophe, auch wenn er selbst das Wort als zu groß von sich weisen würde. „Die Weltgemeinschaft hat sich für den totalen Krieg entschieden und das Prinzip der gewaltlosen Lösungen aufgegeben."

Herbert Leuninger nimmt all das in einem ungewöhnlichen, glaubwürdigen Sinne persönlich. Er ist darüber verzweifelt. Er habe nicht gewußt, sagt er, „daß man damit leben kann. Darauf hat mich niemand vorbereitet." Das heißt nicht, daß Leuninger darüber zum Misanthropen geworden wäre. Im Gegenteil. „Ich habe in den zurückliegenden 35 Jahren nichts Eindrucksvolleres erlebt als die Solidarität von einzelnen Menschen mit den Flüchtlingen." Eine Solidarität, die über alle religiösen und politischen Grenzen hinweg Bestand habe. Daß diese Zeichen der Humanität reichten, des Menschen Zukunft zu garantieren, glaube er zwar nicht mehr, aber: „Es ist das, was mich in dieser Arbeit hält."
ELISABETH EHRHORN