Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1970

Schriftauslegung und Predigtgedanken
Hebr 10,5-10
IV. Advent (C)
veröffentlicht in:
Heinrich Kahlefeld (Hrsg.) in Verbindung mit Otto Knoch,
Die Episteln und Evangelien der Sonn- und Feiertage,
Auslegung und Verkündigung 6,
Die Episteln, I, Advent bis Sonntag nach Erscheinung,
Lesejahr C, Frankfurt/Stuttgart 1970, S.37-39

INHALT
Die Messe ist dann gegenwärtiges Kreuzesopfer, wenn die volle Tischgemeinschaft verwirklicht wird.

Hebräerbrief 10, 5-10

5 Darum spricht Christus bei seinem Eintritt in die Welt: Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du mir geschaffen;
6 an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen.
7 Da sagte ich: Ja, ich komme - / so steht es über mich in der Schriftrolle -, um deinen Willen, Gott, zu tun.
8 Zunächst sagt er: Schlacht- und Speiseopfer, Brand- und Sündopfer forderst du nicht, du hast daran kein Gefallen, obgleich sie doch nach dem Gesetz dargebracht werden;
9 dann aber hat er gesagt: Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun. So hebt Christus das Erste auf, um das Zweite in Kraft zu setzen.
10 Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Opfergabe des Leibes Jesu Christi ein für alle Mal geheiligt.

I

(1) Hebr 10,5-10 ist ein wichtiger Beleg dafür, daß mit Christus eine Religiosität ihr Ende findet, die menschliches Versagen durch äußere Gaben und rituelle Handlungen zu kompensieren sucht. Das sündentilgende Opfer verliert seine Bedeutung angesichts der Wertung, die die innerpersönliche Metanoia und Hingabe an Gott erfährt. Die rückhaltlose Darbietung seiner selbst, das Hinhalten der vollen Existenz wird zur eigentlichen Grundhaltung des Menschen erklärt. Sie findet ihren Ausdruck im Glauben an die einmalige Heilsbedeutung des Kreuzes.

(2) Der Verfasser des Hebräerbriefes, der diesen Gedanken ans Licht hebt, versucht, die neue Sicht mit den seinen Lesern vertrauten Vokabeln zu erläutern: die Überwindung eines überflüssigen Opferkultes in der Begriffssprache eben dieses Kultes. Damit war die Gefahr verbunden, dem kultischen Mißverständnis einen neuen Zugang zum christlichen Glauben zu eröffnen. Die spiritualisierte Vorstellung des »Hohenpriesters« Christus konnte allerdings der erneuten Verdinglichung in der kirchlichen Praxis nicht immer wehren, wofür die »Gregorianischen Messen« wahrlich nicht der einzige Beweis sind.

(3) Im Grunde geht es um die Urversuchung des Menschen, sich kultisch abzusichern gegenüber einem Anspruch, der ihn zu hart ankommt. Das Psalmen-Zitat unserer Perikope verweist bereits auf die kritische Instanz, die vornehmlich bei den Propheten zu Wort kommt. Der Kampf dieser Gottesmänner ist nicht gegen den Kult als solchen gerichtet, sondern gegen das Ausweichen in ihn; denn es erschien möglich, sich durch den Kult von der Erfüllung des göttlichen Willens zu dispensieren. Das war umso gefährlicher, als der korrekt vollzogene liturgische Dienst das Gefühl hinterließ, mit besonderer Frömmigkeit Gott gegenübergetreten zu sein. »Was den Kultus fragwürdig macht, ist seine überzeugende Intaktheit, die die tödliche Gefährdung der bundesbrüchigen Gemeinde vor ihren Augen verbirgt« (Kurt Frör).

(4) Diese latente Gefährdung ist uns heute wieder deutlicher bewußt. Ganz abgesehen davon, daß wir dem magischen Kreis jeder Opfertheorie entronnen sind, gelten für uns ernsthafterweise nurmehr personale Kategorien. Dies führt schließlich dahin, daß wir statt »Opfer« lieber Worte verwenden, die das mit »Hingabe« Gemeinte deutlicher zum Ausdruck bringen. Die derzeitige Unruhe auf dem liturgischen Sektor speist sich aus diesem Umdenken. Die übermäßige Aufmerksamkeit, die diesem Bereich gewidmet wird, gibt allerdings der Befürchtung Anlaß, es werde unter erneuten Vorzeichen ein Alibi gesucht, um der gottgewollten Hingabe an die Aufgaben in der Welt auszuweichen.

II

(1) Bei der alten Leseordnung, die sich Jahr für Jahr wiederholte, bestand bei vielen schwierigen Perikopen wenigstens die Vertrautheit des schon mehrfach Gehörten. Bei zahlreichen neuen Perikopen entfällt dieser »Vorteil«. Sie bleiben nicht nur fremd, weil sie erstmals verlesen werden, sondern weil sie einer fernen Welt entstammen. Wo diese Welt bereits so versunken ist wie der Opferdienst des Alten Bundes, richtet weder eine vorgängige noch eine nachträgliche Erläuterung sehr viel aus. Der Prediger darf sich nicht darüber täuschen, wie eng hier die Grenzen für ihn gesetzt sind.

(2) Solange es für sinnvoll gehalten wird, möglichst viele Partien der Schrift in die Verkündigung einzubeziehen, bleibt in zahlreichen Fällen nichts anderes übrig, als den einen oder anderen Gedanken, für den man bei den Hörern Resonanz erwarten darf, zur Auslegung heranzuziehen. Das bedeutet einen Vorrang der thematischen Predigt.

(3) Unsere Gemeinden werden sehr in Atem gehalten durch die Wandlungen, die Auffassung und Praxis der Eucharistiefeier durchlaufen. Was von den einen begrüßt wird, lehnen andere ab. Bei letzteren wird vor allem als ein erheblicher Mangel empfunden, daß der Mahlcharakter so stark betont wird. Dafür wird der Gedanke vermißt, daß die Messe in erster Linie Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Christi ist. Danach ist die Messe nicht nur ein Mahl, sondern Opfermahl.

Diese Einwände werden gegenstandslos, wenn gesehen wird, daß die zugrundeliegende Mahlgestalt das Moment der Hingabe an Gott in Form der »Preisung« bereits enthält.

III

(1) Immer stärker drängen christliche Gruppen dahin, bei der Eucharistiefeier eine wirkliche Tischgemeinschaft zu bilden. Sie wollen sich nicht mehr damit begnügen, im Altar nur das Symbol des Tisches und in der Reihe der Kommunizierenden nur das Symbol einer Tischgemeinschaft zu besitzen. Brüderlichkeit darf nicht nur andemonstriert, sondern muß erlebt werden. Dagegen steht die Befürchtung, daß einer um den Tisch versammelten Gemeinschaft der Opfercharakter der Messe entschwindet.

(2) Nicht von ungefähr soll aber das Opfer Christi, seine Hingabe am Kreuz, im Rahmen eines Mahles gegenwärtig werden. Die Gleichnisse vom himmlischen Hochzeitsmahl sind zur Erklärung dieser Verbindung sicher ebenso wichtig wie die Tatsache, daß Jesus mit Freund und Feind, vor allem aber mit Sündern und Ausgestoßenen Mahl gehalten hat. Was es mit diesem Mahlhalten auf sich hat, wird besonders deutlich beim Letzten Abendmahl. Jesus liefert sich im Gehorsam gegen Gott dem Tod aus, aber sein Tod schließt die Hingabe an die Jünger, ja an alle Menschen ein. Das kommt zur Darstellung, wenn er sagt oder durch den Gestus ausdrückt: »für euch, für die vielen «.

(3) Im Kern enthält dieser Vorgang die Einsicht, daß jedes echte Mahl mehr ist als nur eine Gelegenheit sich zu sättigen. Es berührt darüber hinaus das Grundverhältnis der Tischpartner zueinander. Essen begründet und vertieft die Gemeinschaft, da nie nur Speise und Trank aufgenommen werden, sondern mit ihnen der andere.

(4) Von daher wird verständlich, daß Mahl und Hingabe innerlich korrespondieren. Die eucharistische Symbolhandlung enthält die Wirklichkeit der Kreuzeshingabe und kann dafür stehen. Kreuzes-Nachfolge vollzieht sich dadurch, daß sich der einzelne auf die Tischgemeinschaft mit Christus einläßt. Was das bedeutet, kann kaum besser wiedergegeben werden als mit Worten von Martin Luther: »Dies ist aber die Frucht, daß wir uns wiederum lassen essen und trinken, wie wir des Herrn Christi Leib und Blut getrunken haben, und auch zu unserem Nächsten diese Worte sprechen: Nimm hin, iß und trink! « Der Kommunizierende, der Jesus in sich aufnimmt, erklärt seine Bereitschaft, sich selbst »verzehren« zu lassen; anders ausgedrückt: er will sich in der Hingabe an den andern verzehren.

Die Messe ist dann gegenwärtiges Kreuzesopfer, wenn die volle Tischgemeinschaft verwirklicht wird.