Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1970

Predigt zu Silvester
DENKEN IN JAHRTAUSENDEN

veröffentlicht in: Ambrosius Karl Ruf (Hrsg.), Predigten zu besonderen Anlässen, Feste des Kirchenjahres 2,
Regensburg 1970, S. 73 - 76

Ein Jahr dauert, obgleich es auf 365 Tage zu je 24 Stunden festgelegt ist, für jeden im Grunde verschieden lang. Es ist ähnlich wie mit den Stunden. In einem Fall kommen sie uns vor wie eine Ewigkeit, im andern Fall vergehen sie im Fluge. Ich vermeine mich noch daran erinnern zu können, daß mir als Kind ein Jahr viel länger vorgekommen ist als heute. Viele drücken in diesen Tagen ihr Erstaunen darüber aus, wie schnell das Jahr wieder vergangen sei.

Wie ist das mit unserem Leben? Sicher, die Lebenserwartung ist gestiegen. Fragen wir aber die Achtzigjährigen, ob sie ihr Leben als lang oder kurz empfinden, werden wir zumeist hören, es komme ihnen alles in allem kurz vor. »Du schwemmst sie hinweg«, heißt es im Psalm 90 von den Jahren, »dem Traum am Morgen werden sie gleich, dem grünenden Kraut, in der Frühe grünt es und blüht, am Abend wird es geschnitten und welkt . .., denn flüchtig gehen sie vorbei, und wir fliegen dahin.«

Mit dem Erlebnis von der Kürze des menschlichen Lebens ist eng gekoppelt die Erkenntnis, daß ein Leben nicht ausreicht, um die Erfahrungen zu sammeln, die ein Mensch braucht, um die Probleme und Fragen, die sich ihm stellen, richtig zu beurteilen und dementsprechend zu entscheiden.

Um diesem Mangel abzuhelfen, haben die Lehrer des geistlichen Lebens bislang empfohlen, das eigene Leben gelegentlich unter dem Blickwinkel der Ewigkeit »sub specie aeternitatis« zu betrachten. Diese Art von Lebensbetrachtung wird aber nicht jedem liegen. Der Mensch kann nur schwer seine Zeit ernst nehmen, wenn er versucht, sich in Gedanken außerhalb von ihr zu stellen. Uns bietet sich heutzutage eine Betrachtungsweise an, die in dieser Form früheren Generationen nicht möglich war. Sie verfügten nicht über die Erkenntnisse, die die Grundlagen dieser neuen Perspektiven bilden. Diese ergibt sich aus dem enormen Wissen, das wir heute über die Vergangenheit haben, über die Geschichte des Menschen, aber auch über die Geschichte des Lebens und der Erde. Ihre Zusammenfassung finden alle diese Erkenntnisse in der sogenannten Entwicklungstheorie. So angefochten und ungeklärt sie im letzten noch sein mag, so enthält sie doch die beachtliche Möglichkeit, das menschliche Leben neu zu durchdenken. Vergegenwärtigen wir uns kurz folgenden Tatbestand:

Der Mensch tritt, gemessen an dem Alter der Erde und des Universums, erst sehr spät auf. Er ist eine äußerst junge Erscheinung hier auf der Erde. Hunderttausend Jahre gibt es ihn erst. Viele Arten von Tieren und Pflanzen, die vor ihm existiert haben oder noch existieren, gehen in ihrer Lebensdauer in die Jahrmillionen. Betrachtet man nunmehr den Menschen vom rein biologischen Standpunkt aus, dann ist nicht einzusehen, warum seine Lebensdauer kürzer sein soll als die der anderen Lebewesen. Das heißt: Das menschliche Leben könnte noch viele Millionen Jahre fortdauern.

Machen wir nun ein gedankliches Experiment, und nehmen wir als die Dauer, in der die Menschheit existiert, nur einmal eine Million Jahre an. Vergleichen wir weiterhin das Leben der Gesamtmenschheit, die wir als Einheit auffassen wollen, mit den Entwicklungsphasen eines Einzelmenschen. Dann ergibt sich folgender Überblick: Wir, die Menschheit, sind gerade erst zehn Jahre alt. Während der ersten fünf oder sechs Jahre haben wir uns kaum von den Säugetieren unterschieden. Dann haben wir, wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Fourasti sagt, Kunst, Moral, Recht und Religion entdeckt. Seit einem knappen Jahr können wir lesen und schreiben. Vor zwei Monaten wurde Christus geboren. Seit zwei Tagen etwa können wir Flugzeuge bauen. Verfolgen wir diese Vorstellungen weiter, so befinden wir uns jetzt mitten im Wachstum, nachdem wir die Phasen einer schweren Kindheit mühevoll hinter uns gebracht haben. Mittlerweile sind wir ein zehnjähriger Junge, manchmal mutig, manchmal ängstlich, aber vielversprechend. Vom nächsten Jahr an werden wir viele Diktate ohne Fehler schreiben, in hunderttausend Jahren werden wir volljährig.

Wie gesagt, es handelt sich um ein gedankliches Experiment. Wem es als reine Spielerei vorkommt, dem kann ich es nicht verübeln. Wer aber geneigt ist, einen Sinn dahinter zu finden, dem sei gesagt, daß die Überlegungen einen beachtlichen Rückhalt finden in der modernen Lehre vom Menschen und seiner Zukunft.

Wir sind davon ausgegangen, unser persönliches Schicksal zu bedenken, und sind dabei an die Gesamtmenschheit geraten. Sobald wir in den Größenordnungen von Jahrtausenden und Jahrhunderttausenden denken, bekommt auch unsere Einstellung zur Kirche und zum Christentum eine neue Färbung. In unserer fiktiven Zeitrechnung konnten wir sagen, Christus ist vor zwei Monaten geboren. Jetzt können wir fortfahren, seit eben dieser kurzen Zeit besteht auch die Kirche. Was sind also da die 2000 Jahre der Kirchengeschichte mit den 65 Generationen, die in diesem Zeitraum versucht haben, Christentum zu verwirklichen? Eine erste Phase! Im Bilde vom Senfkorn ließe sich sagen, die Kirche habe gerade angefangen, die ersten Sprossen zu treiben. Die große Krise in der Kirche, von der allenthalben gesprochen wird, könnte demnach als kleine Wachstumsstörung verstanden werden oder als ein Anpassungsprozeß an klimatische Veränderungen. Das »Christentum am Morgen des Atomzeitalters« hat wohl noch nicht ausgespielt, im Gegenteil, vieles deutet darauf hin, daß seine Wirksamkeit als Salz der Welt erst eigentlich beginnt.

Wir sind von dem Gedanken ausgegangen, daß wir ein Jahr, sogar das Leben, als kurz empfinden. Da, wo es gelingt, diese Erfahrung einzufügen in das Bewußtsein, selbst an einer großen Entwicklung mitzuwirken, entgehen wir der Gefahr der Sinnlosigkeit. Es muß das Gespür für Verantwortung einsetzen vor dem, was wir ererbt und in die Zukunft weiterzugeben haben. Hier betrifft uns das Wort eines anderen Psalmes: »Was wir gehört und erkannt, was unsere Väter uns überliefert haben, wollen wir unseren Söhnen nicht verbergen. Nein, dem Geschlecht der Zukunft erzählen des Herren Lob und seine Macht . . . So sollte das Geschlecht der kommenden Zeit, die Söhne, welche dereinst geboren würden, Erkenntnis gewinnen und wiederum sich erheben und ihren Söhnen die Kunde geben, auf daß sie in Gott ihre Hoffnung setzten.« (Ps 77)