Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1970


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 27. Juli - 1. August 1970

Protestanten - Katholiken
Austausch der Parteibücher
Predigtmüde
Modetheologie
Sündenböcke
Gott begegnet

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Protestanten - Katholiken

Wenn Sie das Wort "Baum" hören und dabei spontan an das Laub, die Baumkrone oder an ein Vogelnest denken, besteht die Vermutung, daß Sie ein protestantischer Christ sind. Fallen Ihnen aber zum Stichwort "Baum" Früchte und verschiedene Obstsorten ein, spricht vieles dafür, daß Sie katholisch sind. Mit diesem Ergebnis warten Umfragen auf, die ursprünglich nicht darauf abgestellt waren, konfessionelle Unterschiede herauszufinden. Aufgrund der Konfessionsangaben konnten sie aber nachträglich festgestellt werden. So haben Protestanten mehr mit Fernweh zu tun als Katholiken. Sie rauchen auch häufiger die Zigarette, die eine direkte Verbindung zur weiten Welt herzustellen verspricht.  Es wurde ausgemacht, daß Protestanten mehr lesen und auch besser mit dem Geld haushalten. Dafür sind katholische Hausfrauen mit Männern, die unpünktlich zum Essen erscheinen, nachsichtiger als evangelische. Beruflich sehnen sich Katholiken stärker nach verantwortungsvollen Aufgaben, Protestanten träumen gern davon, mit 50 pensioniert zu werden. Im Unterschied zum Protestanten zieht der Katholik ein finanziell attraktives Stellenangebot einer nur menschlich erfüllenden Tätigkeit vor. In der Politik wechseln evangelische Christen eher einmal die Partei, während katholische Wähler sich nur schwer dazu bereit finden.

Das sind nur einige der Unterschiede, die verdeutlichen, daß in den einzelnen Konfessionen nicht nur unterschiedliche Lieder gesungen werden. Besser als theologische Auseinandersetzungen zeigen die statistischen Erhebungen, wie tief in der menschlichen Seele evangelischer oder katholischer Glaube verankert ist, und wie sehr dieser das Verhalten der Einzelnen prägt.  Das Zusammenfinden der Kirchen wird unter Umständen mehr durch diese konfessionellen Besonderheiten erschwert als durch Unterschiede in der Lehre. Dabei hängt das eine mit dem andern natürlich zusammen. Unter Umständen wird also die andere Konfession als fremd empfunden, obwohl man von Herzen gern die Einheit der Christen unterstützen möchte. Manch einer, der sich auf diesem Gebiet einsetzt, kommt in Situationen, wo er den andersgläubigen Partner nur mehr schwer versteht, weil er selbst es gewohnt ist, anders zu reagieren.

Wenn wir weit in die Geschichte des Christentums zurückgehen, stoßen wir auf ähnliche Schwierigkeiten, wie sie sich etwa in der grundverschiedenen Art eines Apostels Petrus oder Paulus zeigen. Diese beiden haben dem Christentum ihr je eigenes Gepräge gegeben. Man spricht gern davon, daß in der römisch-katholischen Kirche die Tradition des Petrus lebendig geblieben sei, während die evangelische Kirche das geistige Erbe des Paulus angetreten habe. So läßt der russische Dichter Solowjew in einer Erzählung vom Ende der Tage die Katholiken von Papst Petrus II angeführt werden, während sich die evangelischen Christen um den deutschen Professor mit dem bezeichnenden Namen "Pauli" scharen. Sie, deren Zahl insgesamt unter dem Druck des Antichristen erheblich zusammengeschmolzen ist, erleben sich in der Erwartung Christi als die  e i n e Christenheit, als die  e i n e  Kirche. Dazu stoßen dann auch noch die orthodoxen Christen unter ihrem geistlichen Führer Staretz Johannes.

Petrus und Paulus, und nehmen wir jetzt auch noch den Apostel Johannes dazu, markieren große Unterschiede nicht nur im Temperament sondern auch in der Glaubenssicht. Darin liegt eine große Gefahr für die Einheit, wie die Geschichte lehrt. Darin liegt aber auch ein großer Reichtum. Er entfaltet sich, wenn Unterschiede nicht heruntergespielt, sondern voll und ganz in's Spiel gebracht werden.


Austausch von Parteibüchern

Nachdem in der Tschechoslowakei der Umtausch der Parteimitgliedsbücher abgeschlossen ist, plant die SED für den Herbst eine ähnliche Aktion. "Überall", so heißt es von offizieller Seite, "verbinden die Genossen das Ringen um höchste Produktivität mit der Vorbereitung des Umtauschs der Parteidokumente." Es scheint sich wohl um eine Prozedur zu handeln, die in derartigen Organisationen unerläßlich ist, um über ideologisch einwandfreie Mitglieder zu verfügen. Vielleicht haben sich ja im Laufe der Zeit zu viele opportunistische Mitläufer eingeschlichen; vielleicht stellte die Parteispitze zu viele Abweichungen von der verbindlichen Linie fest; oder ist unzufrieden mit dem zögerlichen Einschwenken auf eine neue Linie. Jedenfalls soll die Zahl der Mitglieder drastisch gesenkt werden, um mit der verbleibenden Auswahl wieder schlagkräftiger zu werden.

Ein Umtausch der Taufscheine wurde bislang noch nicht erwogen, obwohl es eine Minderheit in den Kirche gibt, die einer innerkirchlichen Säuberungswelle nicht abhold wäre. Während ein Teil dabei humanen Methoden das Wort redet, drängen andere auf das bewährte Mittel der Exkommunikation, dem amtlichen Ausschluß vom Mitvollzug des kirchlichen Lebens. Die letzte Form wird aber von Fortschrittlichen entschieden abgelehnt, weil sie zu sehr den Geist einer abgelaufenen Epoche atmet. Befürworter einer kirchlichen Säuberung aus Kreisen eher fortschrittlicher Christen setzen auf die schlichte Aufforderung zum Kirchenaustritt. Er wird bei den sogenannten Taufscheinchristen für angebracht gehalten, die zwar noch ihre Kirchensteuer zahlen, sich aber in keiner Weise an den Veranstaltungen der Kirche bzw. der Gemeinde beteiligen.

So deutlich und klar, so kompromißlos und ehrlich eine derartige Auffassung auch erscheinen mag, enthält sie doch eine Vorstellung von kirchlicher Gemeinschaft, die nicht mehr zeitgemäß ist und sich von dem Exkommunikationsdenken nur in der Form unterscheidet; soll doch Druck ausgeübt werden, der sich auf das Gewissen und die Geisteshaltung bezieht und eine einheitliche Ausrichtung bewirken möchte. Wer sich diesem Druck nicht beugt, hat selbst die Folgerung zu ziehen, indem er die Gemeinschaft verläßt.

Überraschenderweise entspricht dieser Auffassung immer noch eine sehr geringe Neigung, die Kirche zu verlassen, selbst wenn die Zugehörigkeit zu ihr eher zähneknirschend aufrechterhalten wird. Bei sehr kritischer Einstellung zum heutigen Erscheinungsbild von Kirche soll ein letztes Band zu ihr nicht durchschnitten werden. Den Gründen für diese Bindung nachzugehen ist ziemlich schwierig, da es sich um eine komplexes Phänomen handelt. Es ist sicher nicht nur eine Anhänglichkeit aus Kindertagen oder die Angst einmal "wie ein Hund begraben zu werden". Mitunter ist es wohl die unausgesprochene Erwartung, die Kirche - eine allerdings stark gewandelte - könne eine hilfreiche Rolle für die Menschheit spielen und sei immer noch berufen, eine sinnvolle Lebensdeutung anzubieten.

Hier beckmesserisch vorgehen zu wollen, was genügt, um gerade noch oder nicht mehr Glied der Kirche zu sein, verdunkelt unnötig die künftige Aufgabe der Kirche. Entscheidend dürfte Zweierlei sein: Einmal, daß sich immer zahlreicher christliche Gemeinschaften herausbilden, in denen ein intensives Nachdenken über die Botschaft Christi gepflegt wird und zu entsprechendem Handeln führt. Zum anderen: Es muß jedem Menschen unbenommen bleiben, zu wählen, ob und in welcher Form er sich an diesem Lebensvollzug beteiligt. Das kann sich darin äußern, daß er die christliche Gemeinschaft voll und ganz mitträgt oder nur einen sympathisierenden Kontakt hält. Säuberungswellen sind dann überflüssig - Reformen aber nicht.


Predigtmüde

Viele Christen sind ihrer Prediger überdrüssig, weil sie nahezu ausschließlich über Mitmenschlichkeit, soziale Fragen, politische Krisen u.ä. zu sprechen wissen. Das, so meint man, werde anderweitig so ausgiebig abgehandelt, daß man beim Gottesdienst gern darauf verzichten könne. Es bestehe die Gefahr, daß nicht nur Langeweile um sich greife, sondern regelrechte Aversionen entstünden. Zwar wird zugestanden, daß kirchliche Verkündigung Mitmenschlichkeit zum Thema haben müsse, sich aber darin nicht erschöpfen dürfe.

Schon wird die Anklage erhoben, die moderne Verkündigung verfälsche das Evangelium. Kirchengeschichtlich versierte Kritiker verweisen darauf, daß es ähnliche Bewegungen bereits gegeben habe, als sich z.B. die Idee der Aufklärung auch in der Kirche durchzusetzen suchte.  Tatsächlich haben die damaligen Tendenzen zu seltsamen Themen in der Predigt geführt.  So wurde u.a. vorgeschlagen, am Weihnachten, wo das Evangelium von den Hirten spricht, über deren Abhärtung zu predigen und vor dem Gebrauch von Pelzmützen zu warnen. Für den 1. Ostertag wurden folgende Themen für angezeigt gehalten: Über "die Gefahr lebendig begraben zu werden", oder über "das Frühaufstehen", oder "die Gespensterfurcht". Der 2. Ostertag mit den Jüngern, die nach Emmaus gingen, empfahl sich für das Thema "Spaziergang". An Pfingsten, wo das Brausen des Geistes erwähnt wird, sollte die Gemeinde darüber belehrt werden, "Wie wir uns bei Gewittern fromm und vorsichtig verhalten sollten".

Es ist uns heute völlig unverständlich, wie solche Vorschläge ernsthaft unterbreitet werden konnten.  Noch naiver als das Bibelverständnis ist doch wohl die Vorstellung von der Aufgabe, die die kirchliche Verkündigung hat. Aus diesem Grund verbietet sich auch eine Parallele zu unserer Situation, zumal Mitmenschlichkeit in der heute geforderten Form nicht einmal anklingt.  Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn sich dieser Geist der Aufklärung in der Kirche nicht halten konnte. falls er überhaupt in sie eindrang.

Wenn auch der Hinweis auf eine Verbindung der Aufklärung mit heute  nicht stichhaltig ist, bleibt das derzeitige Unbehagen, es werde auf der Kanzel zuviel von Mitmenschlichkeit geredet. Dieses Unbehagen läßt sich auch nicht einfach mit progressiver Geste vom Tisch wischen. Reden von Mitmenschlichkeit, das Überdruß erzeugt, läßt auf Unzulänglichkeiten sowohl beim Redner wie beim Hörer schließen. Lassen wir es einmal dahingestellt sein, ob es nicht tatsächlich  das zentrale christliche Thema ist, und wenden wir und den Predigern zu. Könnte es nicht sein, daß sie das Thema wieder  zu routiniert  abhandeln? Vielleicht nehmen sie auch selbst zu wenig ernst, was sie ihren Hörern verkünden, führen ihr ziemlich bürgerliches Leben ungeschoren weiter und bilden somit selbst das größte Hindernis für die Annahme ihrer Worte. Wie aber steht es bei den Zuhörern? Es ist doch wohl  anstrengend, sehr anstrengend Mitmenschlichkeit zu üben. Sie über zu können, bedarf großer Gnade, es ist etwas einmalig Göttliches.

Es kann eigentlich nicht zu viel von Mitmenschlichkeit  die Rede sein, falls überzeugend von ihr gesprochen wird. Vermutlich fehlen uns die christlichen Propheten, die uns dahin bringen, unser bisheriges Leben als irgendwie hohl zu erkennen, Propheten, zu denen wir hingehen, um zu fragen: "Brüder, was sollen wir tun?"


Modetheologie

Zu jeder neuen Mode gehört eine Reihe Mutiger, die es bei Strafe der Lächerlichkeit auf sich nehmen, eine veränderte Kleidung zu tragen. Natürlich - und das schmeichelt ihnen - erregen sie Aufmerksamkeit, viele drehen sich nach ihnen um, manch einer schüttelt sein weises Haupt. "So etwas Verrücktes", sagen die einen; "Das setzt sich doch nicht durch", meinen die andern. Kritiker von höchster Warte sprechen sogar von einem Sittenverfall. Das ist die erste Phase bei einer neuen Mode. In der zweiten setzt die  Gewöhnung ein, während die dritte Phase zur allgemeinen Anpassung führt. Jetzt ist es an den Kritikern sich umzustellen, wollen sie nicht als Außenseiter gelten. in der Phase der allgemeinen Anpassung verliert die vormals neue Mode ihren Reiz und entläßt aus sich in schöner Regelmäßigkeit den allerneuesten Modeschrei, wobei das Allerneueste durchaus etwas Uraltes sein kann.

Der Zwang zur Veränderung geht nicht von den Modeschöpfern oder von der Bekleidungsindustrie aus. Sie folgen nur dem ewigen Gesetz der Veränderung. Dieses entspricht wohl einem menschlichen Bedürfnis, das das Leben davor bewahrt schal zu werden.

Dieses Gesetz gilt auch für alle anderen Bereiche des Lebens. Es gibt nicht nur die Mode in der Kleidung oder beim Häuserbau, sondern auch im Denken und beim Glauben. Daher wird gegenüber neuen Ideen, wie sie etwa innerhalb der Kirche aufkommen, gar nicht zu Unrecht gesagt: "Das ist Modetheologie!" Doch ist ein solches Urteil vorwurfsvoll gemeint, um einem ungewöhnlichen Gedanken seine mutmaßliche Gefährlichkeit zu nehmen. Das Recht zu einem solchen Urteil leitet sich aus der Überzeugung ab, es gäbe ewige, allgültige Wahrheiten, die durch modischen Aufputz nur verdunkelt werden könnten. Antimodische Theologen wissen an die oberflächlichen Athener der Apostelgeschichte zu erinnern, die sich auf dem Markt um Paulus drängten, weil sie sich von seinen ungewöhnlichen Ideen geistige Abwechslung versprachen. "Die Athener", so heißt es in der Bibel sehr abschätzig, "verbringen ebenso wie die angereisten Fremden die Zeit mit nichts lieber, als wenn sie etwas Neues hören und besprechen können".

Hier geht es um die pure Neugierde, die sich für Neuartiges nur deswegen interessiert, weil es eben neu ist, Diese Einstellung ist sicher auch heute weit verbreitet. Mit ihr lassen sich gewiß keine geistigen Tiefen ausloten; ebensowenig aber auch mit  großen Sätzen über Gott und die Welt, die durch ständige Wiederholung abgegriffen, keinerlei Resonanz im Zuhörer zu wecken verstehen. Es sind die Wahrheiten, die so wahr sind, daß sie kaum noch jemanden aufregen. Deswegen hat ein angesehener Prediger seinen jungen Kollegen geraten: "Willst Du ein gute Predigt halten, die die Leute fesselt, dann füge an irgendeiner Stelle eine kleine Irrlehre ein!"  Das soll wohl nichts anderes heißen, als daß dem Zuhörer auch Ungewohntes zugemutet werden muß, Neues, das bis an die Grenze geht. So wird Aufmerksamkeit geweckt und Nachdenken angeregt.

Wenn wir davon ausgehen dürfen, daß jede wichtige Wahrheit tausend verschiedene Facetten hat, sollten wir uns nicht wundern, wenn wir gelegentlich Überraschendes zu hören bekommen. Die Geschichte der Theologie ist voll solcher Überraschungen. Oftmals war es ein Einzelner, der in einer Glaubenswahrheit eine nie gehörte Perspektive entdeckte. Wie gern hätte man ihn zum Schweigen gebracht. Jahrzehnte, vielleicht erst Jahrhunderte später werden  aber die Spatzen  den unerhörten Gedanken von den Dächern pfeifen. Jede Mode, wenn es nicht eine bloße Modetorheit ist, setzt sich halt durch.


Sündenböcke

Nach der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko wurden in der Sowjetunion und in Bulgarien Sündenböcke gesucht, die dafür verantwortlich gemacht werden konnten, daß beide Mannschaften so schlecht abgeschnitten hatten. Das wäre bei uns nicht viel anders gewesen. In solchen Fällen wird immer ein Schuldiger gesucht, über dem sich der ganze Zorn entladen kann, und der selbstverständlich auch bestraft wird. In der Sowjetunion mußten die beiden Trainer herhalten, in Bulgarien traf das Strafgericht auch die 22 Spieler. Sie wurden wegen Fahnenflucht aus der Nationalmannschaft ausgestoßen. Die Bestrafung wird allen eine Genugtuung sein, die durch das schlechte Abschneiden ihrer Mannschaft in ihrem nationalen Selbstbewußtsein getroffen waren.

Daß Sündenböcke gesucht werden, die oftmals unschuldig zu büßen haben, ist ein Vorgang, der sicher so alt ist wie die Menschheit selbst. Wir kennen es aus dem politischen Geschäft, wir kennen es aus dem täglichen Leben und aus der Geschichte der Völker. Dort sind es vornehmlich die Fremden, die kulturell und rassische Andersartigen, die Minderheiten. Auf sie werden die eigene Unzulänglichkeit oder uneingestandene Schuldgefühle abgewälzt. Bis auf den heutigen Tag sind es die Juden, die etwa in Israel ihre nackte Existenz zu verteidigen haben. In Südafrika und Nordamerika kämpfen die dunkelfarbigen Menschen um Gleichberechtigung. Bis in die Träume hinein spielen sie bei Weißen die Rolle des dunklen Schattens, der ein Hinweis auf unbewältigte Schuldgefühle ist. Die vermeintliche oder wirkliche Schuld wird also vom Unterbewußtsein auf die Farbigen übertragen. Hier liegen die Wurzeln von Abneigung und Haß. Aus der unbewußten Angst vor dem Sexuellen, das sich im Weiblichen symbolisiert, werden Frauen als Hexen verurteilt und hingerichtet. Die eigenen Probleme werden auf Kosten anderer in rigoroser Weise zu lösen versucht.

Die Vorstellung vom Sündenbock besitzen wir aus der Bibel.  Dort versuchte der Hohepriester auf rituelle Weise das Volk von seiner Schuld zu befreien. Am großen Versöhnungstag wurde ein lebender Bock vor den Altar gestellt. Der Hohepriester sollte ihm beide Hände auf den Kopf legen und "über ihm alle Verschuldungen der Israeliten und alle ihre Übertretungen, die sie irgendwann begangen hatten, bekennen, sie auf den Kopf des Bockes übertragen und ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste schicken". So hatte das Tier alle Schuld des Volkes auf sich zu nehmen und sie in eine abgelegene Gegend zu tragen. Es selbst würde irgendwo in der Wüste umkommen.

Sicher erlebte das Volk diesen Vorgang als befreiend und erlösend. insofern es diesem Ritual voll vertraute. Wir haben solches Vertrauen längst verloren, wenigstens in unserem bewußten Verhalten. Allerdings stehen wir in der ständigen Versuchung, Sündenböcke zu suchen. Die Psychologie, die diese innerseelischen Abläufe entdeckt hat, nimmt uns aber das Recht dazu. Die Entlastung von Schuld und Schuldgefühlen muß auf andere Weise erfolgen. Der Glaube sieht die eigentliche Entlastung von Schuld in der Person Jesu gegeben. Er habe, so heißt es im Brief an die Hebräer, die Sünden aller auf sich genommen, um sie auf das Kreuz zu tragen. Die Parallele zum Sündenbock der vorchristlichen Zeit  ist offensichtlich. Die Schuld der Menschheit - unsere Schuld - liegt auf ihm. Die Wüste, in die er hinausgeführt wird, ist das Kreuz. Soweit die Parallele. Das Neue liegt darin, daß die Schuld im Zentrum einer Person überwunden wurde und nicht in einem magischen Ritus. Ausschließlich nach diesem Gesetz wird auch eigene Schuld zu bewältigen sein.


Gott begegnet

"Gott ist tot!" verkündeten vor zwei, drei Jahren eine Reihe von Buchtiteln. Danach erschien das Buch eines Marxisten: "Gott ist nicht ganz tot!" Ein Bucherfolg aus jüngster Zeit ist das Bekenntnis eines Franzosen: "Gott existiert - ich bin ihm begegnet!" In Frankreich werden innerhalb von sechs Monaten 200.000 Exemplare verkauft, in Deutschland kommen im Laufe von acht Wochen vier Auflagen heraus. Kirchliche Wochenblätter bringen das Buch in Fortsetzung; große Magazine widmen ihm ausführliche Besprechungen. Das läßt den Schluß zu, die Frage nach Gott ist  keineswegs erledigt; im Gegenteil, sie weckt immer noch brennendes Interesse.

In dem besagten Buch schildert der Verfasser ein sehr persönliches Erlebnis, das er vor Jahren in irgendeiner kleinen Kirche von Paris gehabt hat. Von diesem Tag an war er unerschütterlich von der Existenz Gottes  überzeugt. Daß es zu einer solchen Erfahrung kommen konnte, ist dem Autor bis heute unerklärlich. Ohne jede religiöse Erziehung aufgewachsen, huldigte er den atheistischen Grundsätzen eines französischen Sozialismus, für den die Frage nach Gott nicht nur negativ entschieden war, sondern überhaupt nicht existierte. Aus diesem Atheisten wird nun innerhalb von fünf Minuten ein überzeugter Katholik, der von sich schreiben konnte: "Als ein Skeptiker und Atheist der extremen Linken hatte ich die Kirche betreten, und größer noch als mein Skeptizismus  und mein Atheismus war  meine Gleichgültigkeit gewesen,... ich ging wenige Minuten später als ein 'katholischer, apostolischer, römischer' Christ, getragen und emporgehoben, immer von neuem ergriffen und fortgerissen von der Woge einer unerschöpflichen Freude". Die durch diese Bekehrung überraschten Angehörigen  veranlassen eine ärztliche Untersuchung. Der mit der Familie befreundete Arzt diagnostiziert eine Art seelischer Krankheit, eine mystische Krise, die im allgemeinen zwei Jahre dauere, aber keinerlei Schäden oder Spuren hinterlasse. Man müsse nur Geduld haben.

Sicher gibt es gerade im Religiösen die übersteigerte Einbildungskraft, die zu kurzlebigen Ekstasen führt. Wir kennen aber auch viele Bekehrungserlebnisse, die einen starken und dauernden Einfluß ausgeübt haben. Allerdings sind sie nicht übertragbar.  Jeder Bericht über ein derartiges Ereignis, das die Tiefen eines Menschen aufwühlt, kann nur einen dürftigen Widerschein vermitteln. Als Außenstehende vermögen wir nur die Tatsache selbst zur Kenntnis zu nehmen. Wichtiger für uns ist das, was sich anschließend im Leben eines solchermaßen Betroffenen zeigt. So ist auch die Frage zu stellen, welchen Nutzen  sich die zahllosen Leser von dem erwähnten Buch versprechen.  Denn es ist wohl kaum anzunehmen, daß durch dessen Lektüre allein ähnliche Erfahrungen geweckt werden. Sollte diese dennoch der Fall sein, würde man es mit großer Skepsis zur Kenntnis nehmen.

Ehrlicherweise erwähnt der Autor, wie sich ein Kollege bei ihm Rat geholt hat, um auf ähnliche Weise zum Glauben zu gelangen. Er brauche nur, so wird ihm bedeutet, einen Monat lang jeden Morgen der Sechs-Uhr-Messe beizuwohnen. Dann sei der Erfolg garantiert. Der gewissenhaft befolgte Rat zeitigt allerdings nicht den erwünschten Erfolg. Der Monat geht zu Ende, und der Kollege ist immer noch nicht zum Glauben gekommen. Dennoch gibt er sein Suchen nicht auf - und es ist wohl die Begegnung mit einem gläubig gewordenen Menschen, die schließlich dazu führt, daß er doch noch zu einer lebendigen Glaubensüberzeugung findet. 

Warten wir also nicht darauf, daß uns ein Blitzstrahl vom Himmel trifft, sondern daß wir einem verwandelten Menschen begegnen.