Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1978

Sonntag,/16.7. 1978, 11,30 - 14.00 Uhr
HESSISCHER RUNDFUNK
Sendung: "Rendezvous in Deutschland"

Integration und Schule

Interviews
von Gianna van Loe (italienische Journalistin) und
Andreas Arnakis (griechischer Journalist)
mit Siegfried Müller, IG-Metall Hauptvorstand und
Herbert Leuninger, Bischöfliches Ordinariat Limburg

INHALT
Die Schulpolitik muß sich endlich darauf einstellen, daß sie es bei den Kindern der nichtdeutschen Migrantenfamilien überwiegend mit Einwanderern zu tun hat, die darauf angewiesen sind, die deutsche Sprache zu beherrschen.


HR :
Gegenstand unseres Interviews sind die Probleme der ausländischen Kinder generell und der neue Hessische Schulerlaß speziell. Nun, Herr Leuninger, eine Frage an Sie gerichtet: Wie beurteilen Sie den Hessischen Schulerlaß für ausländische Kinder aus der Sicht der katholischen Kirche? Stellt er eine Verbesserung oder eine Verschlechterung dar im Bezug auf die Integration der ausländischen Arbeitnehmer?

Leuninger:
Der Erlaß ist - und das ist natürlich keine offizielle Wertung - eine Art Gemischtwarenhandlung, Es sind Verbesserungen enthalten, aber auch Passagen, die unter Umständen je nach dem, wie sich die politische Lage entwickelt, sich als Verschlechterung auswirken können.
Um mit dem Positiven anzufangen: Der Erlaß streicht noch einmal heraus, daß die ausländischen Kinder die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten haben, wie die deutschen.

Man will auch den Schwerpunkt auf Integrationshilfen setzen. Aber, und hier liegt das Unrealistische und damit auch Negative, die Einleitung spricht von der "sozialen Eingliederung der ausländischen Kinder für die Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik". Das heißt indirekt, daß man nur von einem provisorischen Aufenthalt der ausländischen Arbeitnehmerbevölkerung in der Bundesrepublik ausgeht. Das entspricht nicht der Realität, das entspricht auch nicht den Aussagen, die etwa der Hessische Ministerpräsident macht, wenn er sagt, die Frage Einwanderungsland - Nichteinwanderungsland - ist nicht mehr aktuell für die zweite Generation. Für die Jugendlichen, die hier geboren wurden, gibt es neben der Bundesrepublik keine Alternative. Das sei mehr zum Hintergrund gesagt.

Weitere Details, die sich negativ auswirken können, sind die reinen Ausländerklassen. Das sind Klassen, in denen italienische, spanische, türkische, griechische, jugoslawische Kinder zusammen sind ohne deutsche Klassenkameraden.

Eine ähnliche Einrichtung, die auch problematisch ist - obwohl sie etwas besser ist -sind die Ausländerklassen gleicher Muttersprache. Hier sind beispielsweise nur italienische Kinder zusammen, die in italienisch und in deutsch unterrichtet werden, aber ebenfalls ohne ihre deutschen Klassenkameraden. Beide Formen halten wir für sehr problematisch, weil sie u.U., und mit der Erfahrung, die wir jetzt haben, ziemlich sicher, die Gettosituation der Kinder und Jugendlichen noch unterstreichen.

HR :
Was halten Sie von zweisprachigen Klassen?

Leuninger:
Genau die meinte ich ja eben. Das sind die Klassen, in denen italienische Kinder oder griechische Kinder in ihrer Muttersprache und in Deutsch unterrichtet werden.

HR :
Ja, das ist das ganze Problem. Man hat gespürt, daß diese sogenannten zweisprachigen Klassen in reine nationale Klassen ausarten. Was mit nationalen Klassen passiert, wissen wir alle: das ist bis jetzt negativ zu bewerten

HR :
Herr Müller, wie beurteilen Sie als Gewerkschaftler diesen Schulerlaß und die Tendenz, diese Maßnahmen auch in allen anderen Bundesländern durchzuführen?

Müller:
Zunächst möchte ich einmal sagen, daß die Gewerkschaften vom Beginn an, seit sie sich mit dem Schulproblem ausländischer Kinder befaßt haben, immer die Integration in den Vordergrund gestellt haben. Der Begriff zweisprachige Klassen ist ja insofern falsch, als es kein deutsches Kind gibt, das die gleiche Klasse besucht, um italienisch zu lernen. Also sind diese Maßnahmen direkt darauf angelegt, hier die ausländischen Kinder aus dem normalen Schulbetrieb abzusondern und in eigenständigen Klassen zusammenzufassen. Was das bisher gebracht hat, haben wir ja an einer Reihe von Beispielen gesehen. Wir sind der Meinung, daß sicherlich die Muttersprache der Kinder erhalten bleiben soll. Aber um den ausländischen Kindern Chancen einzuräumen, später Eingang in das Berufsfeld zu finden, muß hier auf ein Zusammenleben mit deutschen Kindern Wert gelegt werden.

HR :
Sie haben das Thema Muttersprache angeschnitten. Was ist eigentlich Muttersprache in diesem Fall? Zumindest kann man sagen, daß die Sozialisationssprache Deutsch ist für die ausländischen Kinder. Die Kinder, die hier geboren sind, brauchen diese Sprache notwendig, um sich zurechtzufinden.

Müller:
Die Kinder, die hier geboren sind, brauchen diese Sprache notwendig, um sich zurechtzufinden.

Leuninger:
Ich glaube schon, daß die Zweisprachigkeit, mit der wir in Deutschland wenig Erfahrung haben, und die Förderung der Zweisprachigkeit doch einen eigenen Wert hat für die Kinder, die hier bleiben werden.

HR :
Ist das aber nicht eine Überforderung der Kinder, wenn das nicht mit den genügenden Mittel gemacht wird, so wie das leider bis heute der Fall war?

Leuninger:
In der Empfehlung der Kultusminister von 1976 wird die Förderung der Muttersprache motiviert mit der Möglichkeit der Rückgliederung. Da liegt die Problematik, da liegt die Gefahr. Wir sagen Zweisprachigkeit: Ja, aber nicht um die Möglichkeit zu haben, einen größeren Teil der ausländischen Wohnbevölkerung zurückzuschicken,

HR :
Herr Müller, der neue Schulerlaß soll die Kinder sowohl für die Integration in die deutsche Schule als auch für die Reintegration in ihre Heimat vorbereiten. Glauben Sie, daß man zwei so gegensätzliche Ziele überhaupt zur gleichen Zeit verfolgen kann?

Müller:
Ich glaube wohl nicht, daß das in dem Maße geht, sondern das Schwergewicht muß einfach hier auf Integration in das deutsche Schulsystem und Integration in die deutsche Gesellschaft liegen. Teilweise sind die Kinder ja hier geboren und hier aufgewachsen, und ihre Zukunft liegt auch hier. Ich halte die Reintegrationsphase sicherlich für einen interessanten Aspekt, aber sie dürfte auf keinen Fall gleichrangig sein und auf keinen Fall im Schulunterricht überwiegen.

HR :

Wie wollen Sie aber die Angst der Eltern nehmen, daß es hier um eine Germanisierung der Kinder geht?

Müller
Man muß mit den Eltern offen darüber sprechen, welche Aussichten ihre Kinder zu Hause haben und welche hier. Denn sie sind sehr schnell 14,15 und 16 Jahre und steigen ins Berufsleben ein. Hier ist - das muß den Eltern klar sein - eine Chance nur gegeben eine berufliche Ausbildung zu machen, wenn ein deutscher Schulabschluß vorliegt.

HR :
Schön gesagt, aber wer macht das? Wer spricht mit den Eltern? Die Information über diese Sache ist sehr mangelhaft.

Müller:
Wir versuchen zumindest, soweit es unseren Bereich angeht, auf allen Lehrgängen und Seminaren diese Fragen, Schulfragen - und die Eltern kommen ja als Gewerkschaftsmitglied oder als Vater zu uns - mit in die Diskussion einzubeziehen.

HR :
Meine Frage war speziell auf die Medienpolitik abgestellt, aber vielleicht kann man im griechischen Teil die Frage noch einmal erörtern.

HR :
Es ist meines Erachtens bis zum Überdruss von allen Seiten von Integration der ausländischen Arbeiter die Rede. Auch in unserer Sendung heute ist das Wort mehrere Mal gefallen. Muß man, wenn der Begriff einen Sinn haben soll, ihm nicht einen politischen Inhalt verleihen, mit anderen Worten, müßte Integration nicht heißen, den Ausländern die vollen Bürgerrechte zuzubilligen?

Leuninger:
Der Integrationsbegriff, wie er zumeist offiziell verwendet wird, geht nur von einer teilweisen Integration - von der sogenannten sozialen Integration - aus. Auf dem Hintergrund der Vorstellung, daß die Anwesenheit der ausländischen Wohnbevölkerung tatsächlich nur eine vorübergehende ist.

Integration ist aber ein Prozeß, den man nicht so ohne weiteres steuern kann, sondern der eine zwangsläufige Entwicklung mit sich bringt. Ich denke, daß hier in den letzten Tagen gerade der Hessische Ministerpräsident diesen Prozess richtig formuliert und artikuliert hat - auch politisch - wenn er gesagt hat: "Integration ist ein langer Prozeß und am Ende steht die volle Integration".

HR :
Was soll man davon halten, wenn gerade am gleichen Tag der (Bundes-) Innenminister sagt, Deutschland sei nicht nur kein Einwanderungsland, erst recht kein Einbürgerungsland?

Leuninger:
Ich glaube, daß die politische Linie, die hier von Minister Baum (FDP) gezogen worden ist, eine Linie ist, die in diesem Falle von Ministerpräsident Börner ein Stück weit überschritten wurde, was m.E. realistischer und zukunftsorientierter ist.

HR :
Wie ist Ihre Meinung, Herr Müller?

Müller:
Ich meine, daß wenn wir ein vereinigtes Europa wollen - da sprechen die Gewerkschaften immer von einem Europa der Arbeitnehmer- wir: sicherlich dann auch davon ausgehen müssen, daß wir uns Gedanken machen, wie soll es denn in einem Europa der Arbeitnehmer aussehen, wie ist es mit den politischen Rechten bestellt? Hier hat der DGB-Bundeskongreß in dem Schlußteil seines Antrages genau diese Frage mitangesprochen und -aufgenommen, daß die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik es so verstehen, daß eine stärkere politische Mitwirkung und Mitbestimmung der ausländischen Arbeitnehmer ausgebaut wird. Ich darf daran erinnern, daß ja die tägliche Praxis nach der Betriebsverfassung in den Betrieben heute schon so aussieht, daß neben dem deutschen Betriebsrat der ausländische Kollege Rechte wahrnimmt und im Interesse seiner Kollegen im Betrieb handelt.

HR :
Meinen Sie nicht, Herr Müller, daß dieses Fernziel Vereinigtes Europa eine Alibi-Funktion hat? Ist das Nahziel die volle Integration der ausländischen Arbeitnehmer hundertprozentig in. Frankreich, in Belgien - das Problem existiert ja nicht nur in der Bundesrepublik?

Müller:
Es ist sicherlich so, daß die Voraussetzungen in den einzelnen Ländern noch sehr unterschiedlich sind, auch unterschiedlich diskutiert werden. In einigen Ländern ist es sogar für ausländische Arbeitnehmer schwierig - beispielsweise in Frankreich - Gewerkschaftsfunktionen zu betreiben. Ich meine, daß wir zunächst eine Situation schaffen müssen, daß wir gleiche Rechtsvoraussetzungen bekommen; aber wir dürfen nicht übersehen, daß wir auch ausländische Arbeitnehmer aus Ländern hier bei uns haben, die nicht zu den EG-Ländern gehören.

Leuninger:
Ich wollte ergänzend dazu sagen, daß wir unsererseits von der Auffassung ausgehen, daß die Integration nicht nationalstaatlich zu lösen ist, sondern nur im europäischen Kontext. Auch wenn das noch lange dauern wird, müssen wir davon ausgehen, daß wir die Schritte so setzen, daß man als nächstes etwa das kommunale Wahlrecht einräumt. Das ist noch nicht ein staatsbürgerliches Recht, aber bedeutet doch ein politisches Ja und bedeutet mehr als soziale Integration. Vor allem bedeutet es, daß die Politiker diesen Bevölkerungsteil nicht nur indirekt über ihre deutsche Wähler wahrnehmen, sondern unmittelbar als Wahlpersonen.

HR :
Ich nehme an, daß Sie sagen wollen, solange die Ausländer kein politisches Gewicht bekommen, wird das Interesse der Politiker niemals bleiben.

Leuninger:
Das Interesse ist auch ohne das kommunale Wahlrecht in der letzten Zeit erstaunlich gewachsen. Aber es ist nur ein indirektes Interesse; nur insofern es sich widerspiegelt in der Problematik, die für die deutsche Wahlbevölkerung auftritt. Das ist zu wenig.

HR :
Diese Sendung läuft innerhalb eines Programms für Deutsche. Wir sind gewissermaßen zu Gast. Das verschafft uns den Vorteil, nicht nur in den jeweiligen Fremdsprachen zu ausländischen Arbeitern zu sprechen, sondern auch mit den Problemen deutsche Hörer zu erreichen. Wir halten es für ein Stückchen Integration, zumal die ausländischen Jugendlichen die deutschen Schlager oft besser beherrschen als ihre Muttersprache und obwohl der Begriff der Muttersprache sehr dubios ist. Deutsch ist auf alle Fälle die Sozialisationssprache. Aber "Rendezvous in Deutschland" - unsere Sendung - ist ein Einzelfall.

Wie ist Ihre Meinung über die Medienpolitik hinsichtlich der Gastarbeiter? Glauben Sie, daß die ausländischen Arbeitnehmer genügend mit Informationen und Unterhaltung versorgt werden?

Müller:
Ich glaube sicherlich, daß das noch zu wenig ist. Ich könnte mir vorstellen, daß einmal über den Weg von verstärkten Rundfunksendungen und Fernsehsendungen auch alle die Hörer erreicht werden, die Schwierigkeiten hatten in ihrer persönlichen Ausbildung schriftliches Material verfolgen zu können, Darüberhinaus meine ich, daß auch Tageszeitungen und Zeitungen, die für ausländische Arbeitnehmer gemacht sind, auch wesentlich mehr über die Gesellschaft, in der sie hier leben, berichten müßten, z.B. über Institutionen, über Schulfragen, über den Schulweg. Häufig ist es so, Daß dann, wenn man die Information erhalten hat, es für den entscheidenden Schritt, das Schulsystem zu verändern oder eine andere Schule zu wählen, zu spät ist.

HR :
Sie sind nicht nur nicht richtig informiert, sondern auch von anderer Seite sehr stark manipuliert. Das ist die größte Gefahr. Es gibt politische Kräfte aus den jeweiligen Heimatländern, die ein sehr starkes Interesse daran haben, ihre konservative Haltung zur Frage der Schulpolitik mit konservativen Kräften hier zu verbinden.

Leuninger:
Ich glaube die Informationspolitik und die Medienpolitik sollte sich stärker als bisher auf die zweite Generation einstellen. Dabei wird, das Sprachproblem nicht mehr so vorrangig sein, wie es das bis jetzt in den verschiedenen Medien war. Dennoch gehe ich davon aus, daß man Rücksicht nehmen muß auch auf die erste Generation und auch auf einen Teil der zweiten Generation und zwar hinsichtlich der Sprache und des kulturellen Hintergrundes. Aber ich meine, hier bestünden große Chancen medienpolitisch den europäischen Gedanken, in der Art und Weise, wie wir künftig Sendungen machen, zum Ausdruck zu bringen. D.h. daß wir eben nicht nur das nationale Element sehen, sondern daß wir von der Tatsache ausgehen, Medienpolitik ist Kommunikationspolitik in einer Gesellschaft, die sich ethnisch unterschiedlich zusammensetzt.

HR:
Das beste Beispiel ist unsere Sendung heute. Wir bedanken uns für Ihren Besuch hier im Studio.