Herbert Leuninger ARCHIV MIGRATION
1983

Sonntag, 25. September 1983
Interview
HESSISCHER RUNDFUNK (HR)
Sendung: Rendezvous in Deutschland

Woche der ausländischen Mitbürger

(angeschlossen der Sender Freies Berlin, Radio Bremen, NDR und WDR)

INHALT Wer von der Zahl der Ausländer spricht, die zu hoch sei, spricht in einer Weise über Menschen, wie eigentlich nicht von Menschen gesprochen werden dürfte. Viele Aussagen in der Öffentlichkeit tragen dazu bei, daß in der deutschen Bevölkerung geglaubt wird, die Ausländer als Sündenböcke betrachten zu dürfen.

HR:
Herr Leuninger, die Ausländer werden nicht selten als Konkurrenten am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche angesehen. Sind die Deutschen davon überzeugt, daß dies der Fall ist und was kann man dagegen tun, um die deutsche Bevölkerung entsprechend zu belehren?

Leuninger:
Man sollte die deutsche Bevölkerung davon überzeugen, daß die Engpässe, die auf dem Wohnungsmarkt bestehen; und die hohe Arbeitslosigkeit nichts mit der Anwesenheit nichtdeutscher Menschen zu tun haben. Wenn wir seinerzeit nicht Menschen aus den verschiedenen Ländern angeworben hätten, wenn dafür deutsche Arbeiter zur Verfügung gestanden hätten, wären die gleichen Probleme da. Diese jetzt auf die Ausländer übertragen wollen, ist unmoralisch und von der Sache her nicht gerechtfertigt. Ein politisches Problem ist, daß damit die Möglichkeit gegeben wird, die entstandenen Probleme nicht zu beseitigen, sondern sie mit der Anwesenheit von Menschen in Verbindung zu bringen und ihnen fälschlicherweise eine Schuld zuzuschieben, die sie einfach nicht haben.

HR:
Herr Leuninger, Sie schreiben in einem Papier, "wir brauchen die Ausländer", das ist eigentlich genauso schlimm, wie wenn man sagt: Wir brauchen sie nicht mehr.

Leuninger:
Dieses gut gemeinte Argument, das heute von vielen Seite gebraucht wird, von Politikern, vielleicht sogar auch von Vertretern der Kirche, ist ein ausgesprochen doppeldeutiges Argument. Denn wer überhaupt davon spricht, daß wir Menschen brauchen, ist dann auch bereit zu akzeptieren, daß wir Menschen nicht brauchen, und daß wir dann, wen wir sie nicht brauchen, sie irgendwie in ihren Lebensrechten beeinträchtigen - sprich: die Fremden möglichst dahinbringen, daß sie dieses Land verlassen.

HR:
Das gilt nicht nur für die Fremden, sondern auch für die deutschen Arbeiter, die man eines Tages nicht mehr braucht.

Leuninger:
Meine Argumentation ging genau in diese Richtung. Wenn eine Gesellschaft überhaupt so denkt - leider haben wir so gedacht - ist sie auch bereit, den Gebrauchswert Mensch auf alle anderen Gruppen zu übertragen.

HR:
Kann man die deutsche Bevölkerung aufklären über die Beschäftigungsprobleme der Ausländer ?

Leuninger:
Nicht mehr so leicht; denn es sind alle Argumente durchaus gebracht die für die Anwesenheit und die Gleichberechtigung von Menschen nichtdeutscher Nationalität in der BRD sprechen. Aber diese Argumente fruchten im Augenblick nicht. Wenn die Angst zu groß ist, und diese auch politisch nicht abgebaut, sondern eher noch aufgebaut wird, dann kann man mit Argumenten nicht mehr viel erreichen. Deswegen ist der Ansatzpunkt unseres Aufrufs zu dieser Woche "Ängste überwinden" eigentlich ein ganz anderer. Nicht so sehr der aufklärerische, also der, der mit Argumenten und mit Beweisen kommt, sondern der erfahrbar macht, daß Menschen Menschen sind und als Menschen zusammengehören, solidarisch sein sollen als Nachbarn, um dann miteinander zu spüren: Wir haben die gleichen Ängste, wir machen uns nicht gegenseitig angst, sondern es sind andere Faktoren, die für diese
Ängste verantwortlich sind, so daß Solidarität wächst, mit Solidarität die Angst voreinander abgebaut wird, und die wirklichen Ursachen für das, was Angst macht, erkannt werden.

HR:
Die restriktiven Maßnahmen der Bundesregierung erschweren die Lage der Ausländer offensichtlich. Sind diese Maßnahmen , Herr Leuninger, für die Ängste der Ausländer mitverantwortlich?

Leuninger:
In starkem Maße; denn die Ausländer müssen ja den Eindruck gewinnen, daß sie tatsächlich von der Politik in ihren Rechten beeinträchtigt werden, daß eigentlich der öffentliche Druck durch die politischen Maßnahmen noch verstärkt wird, damit möglichst viele von ihnen die BRD verlassen. Und dies verstärkt in einer ungeheuren und kirchlicherseits nicht vertretbaren Weise die Ängste dieser Mitbürger.

HR:
Es gibt Stimmen, die behaupten, daß die bundesdeutschen Politiker durch ihre Äußerungen die Diskussion über Ausländerfragen zusätzlich noch emotionalisieren. Stimmen sie dem zu ?

Leuninger:
Ja. Wer von der Zahl der Ausländer spricht, die zu hoch sei, spricht in einer Weise über Menschen, wie eigentlich nicht von Menschen gesprochen werden dürfte. Viele Aussagen, die manchmal m.E. unbedacht gemacht werden, tragen dazu bei, daß in der deutschen Bevölkerung geglaubt wird, die Ausländer als Sündenböcke betrachten zu dürfen. Viele Ausländer fühlen sich dadurch verunsichert und in ihrer Existenz geradezu bedroht.

HR:
Leisten die zahlreichen Ausländerkongresse Aufklärungsarbeit, und tragen sie dazu bei, das Selbstbewußtsein zu erlangen und zwar in dem Sinne, daß kleine Schritte sichere Schritte sind, weil nach meiner Meinung bis jetzt die Ausländerpolitik seitens der Ausländer selbst sehr wenig gebracht hat ?

Leuninger:
Wir haben durch die Situation bedingt in den vergangenen Jahren durchaus die Ausländerfrage als eine gesonderte Frage behandelt. Das hatte eine gewisse Berechtigung. Ich denke, daß das vorbei ist. Wer jetzt die Ausländerfrage losgelöst von den anderen Problemen betrachtet, tut den Ausländern und der eigenen Sache keinen guten Dienst. Das ist eigentlich mein Anliegen, wobei ich davon ausgehe, daß immer mehr Kreise, immer mehr Kräfte in der Kirche und der Gesellschaft diese Gedanken aufgreifen und weitertragen.

Es sollte sich die Nationalität nicht mehr als etwas herausstellen, was Menschen trennt, sondern was höchstens die Verschiedenartigkeit des gemeinsamen Anliegens unterstreicht.

HR:
Was bedeutet Xenophobie ?

Leuninger:
Das griechische Wort hat eine Doppeldeutigkeit, die in dem Wort Gast nicht direkt erkannt wird. Xenos ist der Gast und auch der Fremde und sogar der Feind.
Wer also in der Übersetzung das Wort Gast mit diesem Hintergrund verwendet, mit diesen langen und uralten Traditionen, wird den Gast durchaus in guten Zeiten gerne aufnehmen, so wie das auch den Gastarbeitern gegenüber geschehen ist.
Aber in dem Wort Gast steckt dann auch die Kehrseite der Medaille, daß man durchaus den Gast in kritischen Zeiten aus seinem eigenen Bereich herausdrängen möchte. Insofern ist das Wort Gastarbeiter ohnehin von Anfang an ein Ausdruck gewesen, der dieses Provisorisch unterstreichen sollte.

HR:
Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Gewerkschaften aus?

Leuninger:
Wir haben in dieser Frage ein hohe Gemeinsamkeit erreicht und konnten dies durch einen gemeinsamen Kongreß unterstreichen; ein Ergebnis ist auch das Faltblatt gegen die Fremdenfeindlichkeit, das von den Kirchen und den Gewerkschaften zusammen herausgegeben worden ist. Der Gedanke der Solidarität kommt aus dem kirchlichen u. gewerkschaftlichen Hintergrund und paßt in dieser Krisenzeit so gut zusammen wie nie zuvor.