Herbert Leuninger   ARCHIV MIGRATION
1993

AUF DEM WEG NACH RECHTS



     

INHALT

Das Feindbild

Produktion: International:

In der Studie des Club of Rome »Die globale Revolution« werden die Parteien in den demokratischen Ländern massiv kritisiert. Ihre Tätigkeit kreise so sehr um Wahltermine und Rivalitäten, daß sie die Demokratie, der sie doch dienen sollten, inzwischen schädigten. Dies hat gravierende Auswirkungen im Zusammenhang mit den weltweiten Wanderungs- und Fluchtbewegungen. Hier rechnet der Club of Rome, in dem etwa 100 Wissenschaftler und Wirtschaftsmanager zusammengeschlossen sind, daß »Bevölkerungsdruck«, »fehlende Chancengleichheit sowie Tyrannei und Unterdrückung AuswanderungsweIlen in Richtung Norden und Westen auslösen werden«, die sich nicht mehr eindämmen ließen. Es wird eine deutliche Verschärfung des defensiven Rassismus in den Ziel- bzw. Aufnahmeländern eintreten. Bei allgemeinen Wahlen könnte dieser Rassismus rechtsgerichteten Diktatoren zur Macht verhelfen. Der römische Klub empfiehlt gegen diesen Trend mehr Entwicklungshilfe und eine ehrliche Information der Bevölkerung in den reichen Ländern hierüber.

Diese Prophetie mag für die nahe Zukunft noch als überzogen erscheinen. Wer aber möchte bestreiten, daß es in der Bundesrepublik ernstzunehmende Anzeichen dafür gibt, daß sich diese Gesellschaft - und nicht nur Teile der Wählerschaft - auf einen Weg begeben hat, der nichts von dem Angedrohten ausschließt. Dieser Prozeß hat etwas Schleichendes an sich.

Produktion: National

Wo bleibt das Feindbild, fragte der SPD-Bundestagsabgeordnete Albrecht Müller im Januar 1988 nach der Moskau-Reise des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß süffisant. Wenn dieser die bestehenden Realitäten in Europa inzwischen anerkenne und nach der Begegnung mit dem Kreml-Chef mit den angenehmsten Gefühlen heimgekehrt sei, was werde dann aus dem bisherigen Feindbild »Kommunist« und »Kommunismus«. Was bleibe der CDU/CSU in den kommenden Wahlkämpfen zur Mobilisierung übrig. Das große Thema der ideologischen Aufrüstung sei weg. Innenpolitisch, so glaubte Müller damals, wird der Wegfall des Feindbildes tiefe Auswirkungen haben. »Wir warten mit Spannung auf die Ersatzlösung.«

Die SPD brauchte nicht lange zu warten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa gab es sehr schnell ein neues Feindbild, das des »Asylanten« beziehungsweise des »Wirtschaftsflüchtlings«. Strauß hat bis zu seinem Tod noch kräftig daran mitgewirkt, dieses Feindbild aufzubauen bis hin zu der Wahnvorstellung, durch unser Asylrecht hätten Milliarden Menschen einen Anspruch in der Bundesrepublik, auf Kosten der Sozialhilfe zu leben. Der »Scheinasylant« wurde zum Wahlkampf Thema der CDU/CSU in Bayern, Berlin, Hessen und Rheinland-Pfalz. Die SPD - von ihren Kommunalpolitikern vor allem im Ruhrgebiet gedrängt - übernahm im Herbst 1990 dieses Feindbild. Dabei steht der Feind bezeichnenderweise wieder im Osten. Mit allen nur erdenklichen Mitteln gilt es ihn davon abzuhalten, die Bundesrepublik zu überrennen. Eine unendliche Asyldebatte ist die Folge. Die Ausschreitungen und Pogrome von Hoyerswerda und Hünxe im Jahre 1991 und die des Jahres 1992 von Rostock und Mannheim konnten nur den überraschen, der die Feindbildproduktion der Politik nicht ernst genommen hatte. Die Reaktion auf den rechten Terror ist eine Große Koalition gegen Flüchtlinge und die Entscheidung, das Grundrecht auf Asyl faktisch abzuschaffen und durch Begleitgesetze den Flüchtling seiner Rechte zu berauben. Bei der Produktion eines Feindbildes geht es immer auch darum, den »Feind« zu entmenschlichen, zu deklassieren, auszuschließen und dies vor allem in der Form der »Entrechtlichung«.

Konsequenzen

Die Dehumanisierung des Flüchtlings

- Vom Rechtssubjekt zum Objekt: Deutschland

Wir erleben seit 1977 den kontinuierlichen Abbau von Zugangs-, Lebens- und Verfahrensrechten für Flüchtlinge. Seit dieser Zeit wurden mehr als dreißigmal Gesetze, Erlasse und Verwaltungsvorschriften in restriktiver Weise geändert, ein in einem Rechtsstaat an sich undenkbarer Vorgang. Damit einher ging eine moralische Erosion, die sich Schritt für Schritt daran gewöhnte, daß nicht nur Grundrechte geschmälert werden dürfen, sondern auch die Menschenwürde - wie in dem dahinterstehenden Abschreckungskonzept - mißachtet werden kann. Dieser Prozeß einer schleichenden Entrechtlichung ist gleichzeitig ein wesentlicher Bestandteil der Entwürdigung und Dehumanisierung von Menschen.

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, so lautet lapidar Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 Grundgesetz und räumt damit dem staatlichen Schutz des Flüchtlings Verfassungsrang ein und zwar im Sinne eines individuellen, gerichtlich einklagbaren Grundrechts.

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die einen bedeutenden Fortschritt für den Schutz von Flüchtlingen darstellt, unterscheidet sich in der Definition, was als politische Flucht anzusehen ist, grundsätzlich nicht von unserer Verfassung. Ihr Kern ist aber das sogenannte »non-refoulement«, das heißt das Verbot, einen Flüchtling in das Land zurückzuschicken, in dem ihm aus begründeter Furcht politische Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugungen droht. Eine Prüfung, ob eine Verfolgungsgefahr besteht, muß auch nach der Genfer Konvention erfolgen; es kann demnach auch nicht einfach eine Abweisung an der Grenze erfolgen. Der eigentliche Unterschied liegt in dem durch das Grundgesetz geschaffenen subjektiven Recht und seinen rechts staatlichen Auswirkungen. Der politische Flüchtling hat nach dem Grundgesetz ein Recht auf Asyl und ein Recht auf die Überprüfbarkeit jeder behördlichen Entscheidung.

Man könnte in diesem Zusammenhang auch sagen, die Bundesrepublik habe mit diesem Artikel über alle geltenden Menschenrechtskonventionen hinweg einen neuen Standard gesetzt, indem sie einzelne Menschen nicht nur als Flüchtlinge aufnimmt und schützt, sondern ihre Aufnahme zu einem Recht ausgestaltet, das mit allen Rechtsweggarantien, die ein heutiger Rechtsstaat seinen Bürgern gewährt, versehen ist.

Die Eltern des Grundgesetzes haben mit Artikel 16 ganz bewußt eine moralische Konsequenz aus der nationalsozialistischen Diktatur ziehen wollen. Es war eine Art Dank an die Völkergemeinschaft für die Aufnahme von 800.000 Flüchtlingen aus Hitlerdeutschland, aber auch eine Selbstverpflichtung dazu, keinesfalls, wie in Tausenden Fällen in der Nazi-Zeit bedenklicherweise auch geschehen, Flüchtlinge an der Grenze zu Deutschland abzuweisen.

Die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl durch den neuen Artikel 16a ist die Entmündigung des Flüchtlings und die Aufkündigung seines Status als Rechtssubjekt. Flüchtlinge werden künftig wieder stärker Objekte des Staates und auf Gedeih und Verderb seiner Gnade ausgesetzt sein.

- Vom Rechtssubjekt zum Objekt: Europa

Das westliche Europa ist seit Jahr und Tag Zielpunkt großer Fluchtbewegungen. Auch wenn bisher nur etwa fünf Prozent aller offiziell vom Flüchtlingshochkommissariat registrierten Flüchtlinge nach Europa kamen, mußte doch ein stetiges Anwachsen der Zahlen registriert werden. Je mehr Menschen in den europäischen Ländern aber Asyl begehrten, umso stärker sank, wie auch in der Bundesrepublik, die Quote der Anerkennungen. Alle, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach unterschiedlichem nationalen Recht als Asylberechtigte anerkannt wurden, galten als die »echten«, die anderen, es war die übergroße Mehrheit, als die »Schein-« oder »Wirtschaftsflüchtlinge«. Gegen sie richtet sich eine immer rigidere Abwehr- und Ausweisungspolitik.

Während das Europäische Parlament eine insgesamt großzügigere Haltung der Mitgliedsstaaten gegenüber Asylsuchenden fordert, geschieht in Europa genau das Gegenteil. Seit Mitte der achtziger Jahre taucht vermehrt das Argument der Notwendigkeit einer »europäischen Harmonisierung« in der bundesdeutschen Asyldiskussion auf. Und auch dabei steht die Abwehrhaltung und die Rechtsverschlechterung im Vordergrund.

Im Dezember 1991 einigen sich die EG-Staaten in Maastricht durch den »Vertrag über die politische Union«, die Visapolitik gemeinschaftlich zu regeln. Darüber hinaus legen sie fest, daß das Asylrecht eine Frage von Gemeinschaftsinteresse sei. Damit sind allerdings nicht Regelungen in Form von Gemeinschaftsrecht, sondern lediglich zwischenstaatliche Konventionen beabsichtigt.

Das hat einen doppelten Grund: Zum einen wird das Europäische Parlament aus der Rechtssetzung ausgeschlossen, sie bleibt bei einer Konvention den Ministerriegen und Beamtenstäben vorbehalten. Damit bleibt auch die Entschließung des Europa-Parlamentes von 1987 unbeachtet. Zum anderen können europäische Nicht-EG-Staaten vertraglich in Konventionen eingebunden werden. Damit läßt sich eine »Vorfeldpolitik« betreiben, die die Außengrenzen der Flüchtlingspolitik vorverlegt.

Zum Zeitpunkt des Maastrichter Vertrages existieren bereits derartige Konventionen. Die Dubliner Konvention vom 15. Juni 1990 legt fest, welcher Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sein soll: Zuständig ist der Staat, der durch Visaerteilung eine Einreise ermöglicht hat, beziehungsweise, über dessen Grenze der Flüchtling erstmals in den EG-Raum illegal eingereist ist. Einen Anspruch auf Asyl regelt sie nicht.

Im sogenannten Schengener Zusatzabkommen vom 19. Juni 1990, zunächst zwischen der Bundesrepublik, Frankreich und den Beneluxstaaten vereinbart, sind Zuständigkeiten, Kontrollprozeduren und Sanktionen festgelegt. Diesem Abkommen haben sich inzwischen Italien, Spanien und Portugal angeschlossen. Mit Schengen geht es unter anderem konkret darum, eine gemeinsame Liste visapflichtiger Länder zu führen, auf der mittlerweile über 100 Staaten stehen, und Fluggesellschaften und Transportunternehmer zu bestrafen, die Flüchtlinge ohne ausreichende Reisedokumente befördern.

Mit diesen Verträgen wird einerseits das Europäische Parlament umgangen, andererseits sind gerichtliche Überprüfungen von Entscheidungen auf der Basis der Verträge nicht vorgesehen. Dies ist das Unterlaufen einer wirklichen europäischen Harmonisierung, die der Demokratie und der Gewaltenteilung in einem vereinigten Europa dient.

Eine inhaltliche Harmonisierung der Asylrechte, obwohl stets zur Begründung angeführt, findet nicht statt. Harmonisiert wird die Abwehr von Flüchtlingen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um politisch Verfolgte und dies in einem erweiterten Sinne handelt.

- Ausgrenzung

Als eines der Begleitgesetze zum neuen Artikel16a Grundgesetz hat der Bundestag ein sogenanntes Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet. Während bisher auch die Leistungen der Sozialhilfe für die Asylbewerber durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt waren, wird nun für diesen Personenkreis ein eigenes Gesetz geschaffen. Dabei ist eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen für Asylbewerber vorgesehen, die im Regelfall als Sachleistungen zu erbringen sind.

Das BSHG ist geschaffen worden, um allen Menschen, die in der Bundesrepublik leben, die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Sozialhilfe ist eine staatliche Leistung, auf die Menschen in Not einen Anspruch haben, die sich nicht selbst aus eigener Kraft und eigenen Mitteln helfen können. Artikel 1 des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zur Wahrung und zum Schutz der Menschenwürde. Der Standard des Menschenwürdigen darf nicht unterschritten werden. Bei der Gewährung von Sozialhilfe ist jeweils vom aktuellen Bedarf auszugehen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat das notwendige Existenzminimum zu sichern. Laufende Leistungen zum Lebensunterhalt werden nach sogenannten Regelsätzen gewährt. Deren Höhe muß nicht nur ein physisches, sondern auch ein soziokulturelles Existenzminimum gewähren.

Die Dynamik der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert in den westeuropäischen und nordamerikanischen Industriegesellschaften durchsetzte, schloß das Bemühen mit ein, die durch Armut bedingte Ausgrenzung zu überwinden und die Gleichheitsrechte aller Menschen materiell abzusichern. Dabei sollte das Individuum als Rechtssubjekt gegenüber einer bloßen Armutsverwaltung gestärkt werden.

Im Nationalsozialismus wurde der gerade auch in der Weimarer Demokratie universalistisch verstandene Sozialbürger durch den Volksgenossen ersetzt. Ihm entsprach eine Umpolung des Leistungssystems vom Bürger zum »Volksgenossen«. Diesem stand der »Gemeinschaftsfremde« gegenüber, der aus den sozialen Leistungen ausgegrenzt wurde. Hierbei ging es um die Dehumanisierung im Rahmen von Anstalts- und Lagerunterbringung, Versorgung an der Hungergrenze, minimale medizinische Betreuung und Zwangsarbeit und schließlich die physische Vernichtung. Insgesamt wurden die Individualrechte durch eine stärkere staatliche Zuteilung von Lebenschancen eingeschränkt.

Die Bundesrepublik hat sich mit ihrer Verfassung und Sozialgesetzgebung von diesen Tendenzen eindeutig abgesetzt und an die bedeutsame sozialpolitische Entwicklung vor Hitler angeknüpft.

Das jetzige Asylbewerberleistungsgesetz verläßt diesen Weg, indem es eine Gruppe aus der allgemeinen sozialrechtlichen Versorgung ausgrenzt und zwar zum Zwecke der Abschreckung und der Kostenersparnis:

    • Der Individualisierungsgrundsatz wird zugunsten pauschaler Regelungen aufgegeben.
    • Die Leistungen werden unter die in der Bundesrepublik geltende Armutsgrenze abgesenkt.
    • Die Entfaltung der Persönlichkeit wird durch das Sachleistungsprinzip erheblich beschränkt.
    • Die medizinische Minimalversorgung gefährdet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
    • Die im bisherigen Asylverfahrensgesetz vorhandenen Regelungen einer restriktiven Lagerunterbringung werden durch Arbeitszwang ergänzt.
    • Dies ist vom Ansatz her die Dehumanisierung einer Gruppe von Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen ist. Alle Asylbewerber, und zwar unabhängig davon, ob ein begründeter oder unbegründeter Asylantrag gestellt wurde, haben einen Anspruch darauf, gemäß ihrer menschlichen Würde behandelt zu werden. Dieses Recht ist unteilbar. Seine Mißachtung hat gravierende Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Asylbewerber, auf ihre gesellschaftliche Einschätzung und auch auf die weitere Entwicklung unseres sozialen Rechtsstaates.

Die Militarisierung der Abwehr:

- Deutschland

Ein weiterer Schritt zur Entmenschlichung des Flüchtlings ist die Militarisierung seiner Abwehr als »Feind« an den Grenzen. Der Bundesgrenzschutz wird an der Grenze zu Polen und der ehemaligen CSFR personell verstärkt. Spähhubschrauber werden eingesetzt. Infrarot- Technik der Nationalen Volksarmee zum nächtlichen Aufspüren von Truppenansammlungen und Panzeraufmärschen wird zum Entdecken von Flüchtlingen getestet. In einer parlamentarischen Antwort zur Sicherung der Grenze gegen illegalen Übertritt erklärte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Eduard Lintner, es gäbe eine breitgefächerte, mehrstufige Gegenstrategie im nationalen wie im internationalen Bereich. »Die Einführung modernster, personalsparender Technik im GSB (Grenzsicherungsbereich) ist im Gange. Es handelt sich unter anderem um die Einsetzung einer automatisierten Grenzkontrolle und um den Aufbau einer Grenzüberwachung mittels Radar und Wärmebildtechnik. Schlimme Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen, daß damit die Errichtung einer elektronischen Mauer nicht mehr ausgeschlossen ist.

Der Bundesinnenminister hatte schon zu einem früheren Zeitpunkt prüfen lassen, ob der Bundesgrenzschutz an der Ostgrenze nicht zeitweilig durch Soldaten verstärkt werden könnte. Dabei müsse vor allem untersucht werden, welche verfassungsrechtlichen Fragen durch eine solche Amtshilfe aufgeworfen würden. Es ging darum, 4000 beim BGS nicht besetzte Stellen anderweitig zu kompensieren. Als das Verteidigungsministerium nach Bekanntwerden das Vorhaben aus rechtlichen Gründen abwinkte, verschwanden die Pläne (vorläufig?) in der Schublade. Im Rahmen einer Art psychologischer Kriegsführung dürften sie ihre Wirkung aber nicht verfehlt haben. Im Innenministerium hatte man auch noch darüber nachgedacht, wie eine »zweite Auffanglinie« - auch hier ein militärischer Ausdruck - gebildet werden könne. Bislang müßten Beamte, die einen »Grenzverletzer« festnehmen, ihn auch unter Beiziehung von Dolmetschern vernehmen. Diese zeitlich aufwendige Prozedur könnte anderen Dienststellen übertragen werden.

Eine neue Variante der Grenzsicherung ist die Anwerbung von Hilfskräften für den Bundesgrenzschutz im Osten der Republik. Im grenznahen Bereich hängen Plakate aus: »Die Polizei des Bundes sucht zur sofortigen Einstellung einsatzfreudige Mitarbeiter«. Der Erfolg ist durchschlagend. In kürzester Zeit liegen für die 1600 geplanten Hilfspolizeistellen 4000 Bewerbungen vor. Dies darf angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern nicht verwundern, wirft aber die Frage auf, wie viele dieser Bewerber darauf brennen, ihre Fremdenfeindlichkeit bei staatlich bezahlter Menschenjagd ausleben zu können. Man könnte in diesem Vorhaben den Versuch sehen, das wabernde, gewaltbereite Potential perspektivloser Menschen für eine »nationale« Aufgabe zu nutzen und es damit für das Ausland unverdächtig zu kanalisieren. Dies wäre die gleiche Taktik, nach der bisher junge, frustrierte oder von nationalen Parolen angeheizte Männer für Kriege gewonnen wurden. Sie toben auf Befehl ihre Aggression gegen den vermeintlichen Volksfeind aus und werden dabei noch zu Helden hochstilisiert. Eigentlich müßte der Bundesinnenminister auf dem Hintergrund der immensen Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft vor einem solchen Schritt zurückschrecken. Er braucht sich eigentlich nur das rechtsextreme und kriminelle Potential vor Augen zu führen, das sich bei der freiwilligen Berliner Polizeireserve gesammelt hat.

Die Hilfsgrenzer sollen nur kurz angelernt und dann dafür eingesetzt werden, Streife zu fahren und nach illegalen Grenzgängern zu fahnden. Sie dürfen vorläufige Festnahmen vornehmen, aber keine hoheitlichen Aufgaben erfüllen. Damit wären unter anderem eine Strafverfolgung und das Tragen einer Waffe ausgeschlossen.

Die Militarisierung der Bundesrepublik verläuft ganz allmählich und vollzieht sich vornehmlich in zwei Bereichen. Einmal geht es darum, die öffentliche Meinung über humanitäre Maßnahmen der Bundeswehr auf militärische Einsätze »out of area« einzustimmen. Hierbei besteht die künftige Aufgabe aber nicht nur darin, in künftigen Krisenherden der Welt »Frieden zu schaffen«, sondern sicher auch darin, die Interessen des Westens und Europas im Rahmen der globalen Verteilungskämpfe gegebenenfalls mit militärischen Mitteln durchzusetzen. An der Ostgrenze geht es um etwas ähnliches, nämlich um das Bemühen, die »Festung Europa« so auszubauen, daß. Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisenländen des eigenen, erst recht anderer Kontinente nicht mehr aufgenommen werden müssen, und somit der erreichte wirtschaftliche Wohlstand mit diesen Menschen nicht geteilt werden muß.

Europa

Andere westeuropäische Länder sind bereits in die Phase eingetreten, daß Militär an der Grenze eingesetzt wird, um Flüchtlinge aufzuspüren, die statt an den offiziellen Grenzübergängen, wo ihnen Zurückweisung droht, an anderen Stellen die Grenze überschreiten oder an Land gehen.

Im September 1990, ein Jahr nachdem ungarische Soldaten den Stacheldraht zur österreichischen Grenze zerschnitten hatten, um DDR-Flüchtlingen den Weg freizumachen, beordert Österreich Soldaten an die Grenze nach Ungarn. Bis zu 2.000 Soldaten des österreichischen Bundesheeres sollen entlang der grünen Grenze im Burgenland die sich überlastet fühlende Grenzgendarmerie verstärken. Die Soldaten sind bewaffnet, erhalten jedoch keinen Schießbefehl. Nur im Notfall dürfen sie zur Selbstverteidigung zur Waffe greifen. Festgenommene, illegale Grenzgänger sollen sie der Gendarmerie übergeben. In der österreichischen Presse wird der Regierung der Vorwurf gemacht, mit dieser Entscheidung eine »lebende Mauer« zu errichten.

Die Art und Weise, wie Soldaten des österreichischen Bundesheeres an der Grenze zu Ungarn patrouillieren, muß den schweizerischen Justizminister Arnold Koller und den Verteidigungsminister Kaspar Villiger überzeugt haben. Valentino Crameri, Kommandant des Gebirgsinfanterieregiments 36 im Ostschweizer Kanton Graubünden, erhält deshalb Anfang 1991 den Befehl, eine seiner Kompanien für einen Testlauf an die Nordgrenze nach Schaffhausen abzukommandieren. Zweck der Grenzwachtübung ist nach dem Beschluß der Berner Regierung: »Erfahrungen sammeln und herausfinden, welche Ausrüstung und Ausbildung für Wehrmänner nötig ist, damit sie überhaupt mit Grenzwachtbeamten zusammenarbeiten können«. Patrouillen mit bis zu drei Soldaten hätten im wesentlichen unter Anleitung eines Grenzwächters das grenznahe Zwischengelände zu überwachen.

In diesem Zusammenhang waren auch militärisch bewachte und geschlossene Großlager in einer vorgesehenen Größe von 500 Personen im Gespräch. Mehrere Dutzend solcher Großlager sollen vornehmlich die Flüchtlinge aufnehmen, die durch sogenannte Schlepper über die Grenze gebracht worden sind. Bei dieser Unterbringungsform, die den Charakter eines Gefangenenlagers hat, soll nur die absolut notwendige Fürsorgeleistung wie Ernährung und Bekleidung erbracht werden. Arbeit gibt es nur als gemeinnützige. Die Entscheidung über das Asylgesuch soll innerhalb weniger Wochen erfolgen. Die Nähe zum bundesdeutschen Konzept ist offensichtlich.

Über Monate verfolgt die internationale Öffentlichkeit die albanische Flüchtlingstragödie in Italien. Im August 1991 setzt das skandalöse Vorgehen der italienischen Regierung gegenüber den 17.000 Bootsflüchtlingen von Bari ein Signal, das für das künftige Verhalten Europas gegenüber Flüchtlingen von ausschlaggebender Bedeutung sein wird. Unter unmenschlichen Bedingungen, wie Vieh in ein Stadion eingepfercht, von Helikoptern überwacht, durch Polizei und Militär am Ausbrechen gehindert und aus der Luft unzureichend mit Nahrung und Getränken versorgt, sollten weitere Flüchtlinge aus Albanien ein für alle Mal abgeschreckt werden. Mit einem Taschengeld, einem T-Shirt und neuen Hosen ausgestattet, wurden sie durch die Polizei, mit Knüppeln traktiert, in ihre Heimat zurücktransportiert.

Die alliierten Schiffsverbände, die später in der Adria stationiert wurden, um das Embargo gegen Serbien zu überwachen, haben de facto ihre wichtigste Aufgabe darin gesehen, Schiffskutter und Containerschiffe nach versteckten Flüchtlingen zu durchsuchen. Auf den Punkt gebracht hat es der ehemalige französische Staatspräsident Valery Giscard d'Estaing. In dem vollen Bewußtsein, daß man auf dem diesbezüglichen Sektor sensibel und vorsichtig mit Worten umgehen muß, vor allem wenn diese einen besonderen gefühlsmäßigen und historisch bestimmten Gehalt hätten, hat er es im rechtslastigen »Figaro-Magazine« so formuliert: Frankreich stehe nicht mehr der Immigration, sondern der »Invasion« gegenüber. Er hat damit sehr viele kritische Stimmen herausgefordert, die Mehrheit der Franzosen hat ihm allerdings, wie eine Meinungsumfrage belegt, zugestimmt.

Die Feinde Europas sind wehrlose Menschen, denen »wehrhafte« Demokratien, die nach rechts rücken, den Zugang mit Gewalt zu versperren suchen! Europa den Westeuropäern! Das ist die etwas erweiterte, subkontinentale Variante des ethnischen Nationalismus, in diesem Fall eines rigorosen Eurozentrismus. Er riegelt sich im Süden gegen Afrika und Asien, im Osten vor allem gegen die unter einem neuerlichen Abwanderungsdruck stehenden Roma ab.

Die Antwort der Bürgerbewegung

Die Asylrechtsbewegung

Diese Entwicklungen gefährden die Demokratie in unserem Land und in Europa. Am meisten gefährdet sind jedoch die Flüchtlinge und mit ihnen die Menschlichkeit. Denn die Wanderungsbewegungen werden trotz einer Wohlstandsfestung Europa und trotz einer Militarisierung an den Grenzen nicht aufhören. Jedenfalls so lange nicht, wie wir statt der Fluchtursachen die Flüchtlinge bekämpfen.

Der schleichenden Aushöhlung des Asylrechts und der kontinuierlichen Absenkung humanitärer Standards, wie sie seit Jahren im Gange ist, haben sich die Kirchen und Wohlfahrtsverbände, vor allem aber auch eine wachsende Zahl lokaler Asyl-Initiativen entgegengestellt. Während das öffentliche Engagement der Kirchen und Verbände immer mehr zurückging, ist das der Asyl-Initiativen immer stärker geworden. Diese empfanden eine gemeinsame Erklärung der Kirchen zum Asylrecht im November 1992 als eine Abkehr von deren bisherigem Engagement. An die Stelle dieser Großorganisationen sind allerdings bis zu einem gewissen Grad die Gewerkschaften getreten.

Die Entwicklung der Flüchtlings-Solidarität verlief in spontaner und unterschiedlicher Weise. Eine irgendwie geartete Animation, öffentliche Aufrufe oder Kampagnen, die verstärkte Zusammenschlüsse zugunsten von Flüchtlingen propagiert hätten, gab es anfangs nicht. Sie sollte es erst im Zuge der wachsenden Fremdenfeindlichkeit im zweiten Halbjahr 1991 durch die Gewerkschaften geben, insofern diese vor allem zu Patenschaften für Flüchtlingswohnheime aufriefen und sich dem wachsenden Terror von rechts entgegenstellten. Tatsächlich hat der »heiße Herbst« 1991 mit den ungezählten Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte dieser Bewegung einen weiteren Auftrieb gegeben und den Kreis der Solidarität noch einmal deutlich ausgeweitet.

Den Schwerpunkt der Arbeit bildet eine ständige Auseinandersetzung mit den Behörden und den Regierungen um Bleibe-, ja um Lebensrechte von Menschen, die in der Bundesrepublik Zuflucht gesucht haben. Dabei gewinnt der Schutz vor Abschiebungen eine herausragende Bedeutung. Die Zahl der von Abschiebung bedrohten Menschen ist durch den Wegfall diverser Abschiebestopps gewachsen. Massenabschiebungen werden geplant und wie bei den Roma aus Rumänien in der Größenordnung Tausender Menschen bereits vollzogen. Die Neuregelungen des Asylrechts, und zwar die erst im Jahre 1993 voll in Kraft getretenen, werden die Abschiebungszahlen in die Höhe treiben. Dies stellt die Unterstützer von Flüchtlingen vor eine ständige Bewährungsprobe.

Immer öfter werden nach Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten Formen des sogenannten Kirchenasyls gewährt. Die dabei gesuchte und normalerweise auch erreichte Öffentlichkeit hat bislang in der Mehrheit der Fälle zu Bleiberechtsregelungen geführt. Vor dem Hintergrund vergleichsweise geringer Zahlen von Abschiebungen gelang es, die Härten des Einzelfalles deutlich zu machen. Vor dem Hintergrund von Massenabschiebungen wird dies schwieriger werden.

Wo Kirchenasyl gewährt wird, ist von allen Beteiligten das Letzte an persönlichem, zeitlichem und finanziellem Einsatz gefordert. An dieser Stelle wird in besonderer Weise die Befindlichkeit von Menschen in der Flüchtlingssolidarität deutlich. Sie binden sich in einer ungewöhnlichen Weise an das Schicksal anderer, ursprünglich fremder Menschen. Sie lernen sie schätzen, gewinnen sie lieb und können kaum mehr anders, als diese neuen Freundinnen und Freunde in einem schweren, von vielen Leiden bestimmten Kampf um Leben und Menschenwürde zu unterstützen. Aus dieser Gemeinsamkeit erwächst eine große Kompetenz, die unversehens in der Lage ist, höchst komplexe rechtliche und behördliche Vorgänge zu durchschauen, zu analysieren und ihnen mit beharrlichen Formen des direkten oder auch öffentlichen Einsatzes zu begegnen. Die dadurch erzielten Revisionen amtlicher, ja sogar gerichtlicher Entscheidungen sind erstaunlich. Allerdings sind sie als Erfolgserlebnisse nicht ausreichend, um das Unmaß an Empörung über die unwürdige Behandlung von Asylbewerbern auszugleichen. Daher bedarf es bei diesem Engagement einer sehr hohen Frustrationstoleranz. Nicht nur der einzelne Fall kann ein durchaus tragisches Ende nehmen, so daß nur zähneknirschende Hilflosigkeit bleibt. Der ganze Einsatz geschieht in einem gesellschaftlichen und politischen Umfeld, in dem die Konditionen für Flüchtlinge immer bedenklicher werden.

Wenn das neue Asylkonzept durchgesetzt wird, führt es zu einer weiteren Entrechtung der Flüchtlinge; vor allem wird die Illegalität zunehmen. Diese wiederum tangiert auch alle, die sich mit »Illegalen« solidarisch einlassen. Das »Aufgreifen« und »Abschieben« von Flüchtlingen, die keinen legalen Status mehr haben oder ihn je erhalten können, wird das innenpolitische Klima beeinflussen und zu größerer Repression und Überwachung führen. Die behördliche und politische Bereitschaft wird wachsen, die Solidarität von Anwälten und unterstützenden Menschen zu kriminalisieren.

Die größere Bürgerrechtsbewegung

In den Stadtstaaten im alten Griechenland galten diejenigen als wirkliche Bürger und Bürgerinnen, die imstande waren, ihr Gemeinwesen an einem anderen Ort neu zu gründen. Eine ähnliche Kompetenz ist auch in der Bundesrepublik erforderlich. Es sind Bürgerinnen und Bürger gefragt, die diese Republik zwar nicht neu gründen, aber vor ihrem Verfall bewahren. Im Mittelpunkt steht die Aufgabe, zu beeinflussen, wie in Deutschland künftig die Würde des Menschen, aller Menschen gewahrt wird. Es geht um den Artikel I unserer Verfassung und damit um die Substanz dieses Staates. Vielfältig bedroht war diese Substanz immer, so mußte sie auch jederzeit verteidigt werden. Mittlerweile reicht die Bedrohung aber tiefer. Die Würde des Menschen steht zur Disposition. Exemplarisch bei diesem Vorgang ist die Diskussion um den Artikel 16 des Grundgesetzes, exemplarisch deswegen, weil der politische Rechtsruck keineswegs nur die Flüchtlinge ins infrarote Visier nimmt, sondern auch auf sozial schwächere Gruppen und ihre Lebensrechte zielt.

Dieser Entwicklung, die zu einer großen Rechtskoalition treibt, stellt sich eine neue Bürgerbewegung entgegen. Erkennbar war diese bereits im Herbst 1991. Damals fand ebenfalls eine pausenlose Asyldebatte um die Einschränkung von Zugangsmöglichkeiten und Verfahrensrechten für Flüchtlinge und die wie ein Flächenbrand sich ausbreitenden gewalttätigen Angriffe auf Flüchtlinge statt. Die Straße suchte auf eine Weise Abwehrpolitik umzusetzen, die zur Lebensbedrohung für Flüchtlinge, aber auch für andere »Fremde« wurde. Das Erschrecken hierüber hat dann nicht nur die Flüchtlingsinitiativen zu außerordentlichen Schutzmaßnahmen wie etwa Wachen an Wohnheimen und die Organisierung von Demonstrationen veranlaßt, sondern erstmals auch weitere Teile der Gesellschaft zu Initiativen angeregt.

Was sich 1991 deutlich zeigte, war eine erweiterte Sensibilität der Bürgerrechtsbewegung, die dem bis dahin doch sehr begrenzten Kreis der Flüchtlingssolidarität zugute kam. Dies war im Rahmen der Vernetzung der neuen sozialen Bewegungen ein großer Fortschritt. Die Flüchtlingssolidarität wurde Bestandteil der größeren Bürgerrechtsbewegung. Unmittelbar zeigte es sich daran, daß die Asyl-Solidarität in die Vorhaben der Friedensbewegung, wie sie sich im Netzwerk Friedenskooperative organisiert hat, einbezogen wurde, und sich ihre Kontakte mit anderen Initiativen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verstärkten.

Bedeutungsvoll war auch die größere Beachtung, die die Themen Flüchtlinge und Fremdenfeindlichkeit bei den Gewerkschaften gefunden haben. Sie haben sich 1991 mit einer bisher nicht gekannten Deutlichkeit in die Auseinandersetzungen eingeschaltet. Das gilt für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) als Zusammenschluß aller Einzelgewerkschaften auf Bundes- und Bezirksebene wie auch etwa für die Industriegewerkschaft Metall, die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Dabei waren sich die Verantwortlichen in den Arbeitnehmerorganisationen völlig im klaren darüber, daß Überzeugungsarbeit nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu leisten war.

Deshalb stellten die vergleichsweise mächtigen Organisationen ihre früheren Bedenken zurück, nicht mit Bürgerbewegungen zu kooperieren, die vom Organisationsgrad, von der Struktur und den Mitgliederzahlen mit den Gewerkschaften so vergleichbar wie der Elefant und die Maus sind. Es zeichnet sich überhaupt - und zwar nicht nur im Asylbereich - bei den Gewerkschaften ein Trend ab, sich in einer Gesellschaft, die wohl nur noch über eine verstärkte Bürgerverantwortung im Sinne der »civiI society« zu formieren oder auch zu reformieren ist, selbst neu zu orientieren.

1992 hat den Verfall der politischen Kultur beschleunigt, aber auch zu zwei besonders wichtigen Gegenbewegungen geführt: die in ihrer Bedeutung jetzt nicht näher analysierte Lichterketten-Bewegung sowie die allmählich zusammenfindende außerparlamentarische Opposition. Während die erste sich auf den gewaltlosen und eindrucksvollen Widerstand gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit konzentrierte oder - wer so will - auch beschränkte, war die zweite Bewegung ausgesprochen politisch orientiert. Hierbei spielte die Auseinandersetzung um den Erhalt des Artikel 16 eine zentrale Rolle. Höhepunkt dieser Entwicklung war zweifellos die Großdemonstration am 14. November 1992 im Bonner Schloßgarten mit ihrem Motto: »Grundrechte verteidigen - Flüchtlinge schützen Rassismus bekämpfen!«. Genau vor dem Sonderparteitag der SPD zum Asylrecht terminiert und sechs Tage nach der Demonstration mit der politischen Prominenz in Berlin, wurde hier ein politischer Akzent gesetzt. Was die Beschlüsse des SPD-Gipfels und die darauffolgende Eintracht der Großen Koalition betrifft, mag die Demonstration keinen Erfolg gebracht haben. Der Erfolg dürfte aber mittelfristig eintreten, wenn es gelingt, das dort erstmals in die große Öffentlichkeit getretene Bündnis in einer Gesamtbewegung zur Erhaltung von Demokratie, Verfassung und Humanität zusammenzufassen. Bereits der Trägerkreis war ein einmalig breites Spektrum einer immer noch vorhandenen und ihrer neuen Verantwortung deutlicher bewußten Progressivität. Den gesamten Unterstützerkreis hinzugenommen, stellte sich ein politisch wichtiger Ausschnitt der Gesellschaft auf eine neue und umfassende Aufgabe ein.

Es kommt darauf an, daß sich diese facettenreiche Bewegung mit sicher sehr unterschiedlichen und spezifischen Aufgaben zusammenfindet, und zwar in dem Bewußtsein, daß sich die etablierten Großparteien auf einen verhängnisvollen, populistischen Trip in rechte Gefilde begeben haben. Ihre programmatischen Bremsen versagen. Sie können vielleicht nur noch dadurch gestoppt werden, daß sich ihnen immer mehr Bürgerinnen und Bürger in den Weg stellen, auch unter Aufgabe ihrer bisherigen Zugehörigkeiten und Loyalitäten. Die neue Opposition sollte dabei auch viele von denen zu gewinnen suchen, die bisher nur in stiller Gemeinschaft eine Kerze auf der Straße getragen haben, deren politisches Unbehagen aber noch niemand auf einen Nenner gebracht hat. Mit dem »Bürgerforum Paulskirche 1993« ist die angedeutete Entwicklung einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Sie wird sich nach einer gewissen Konsolidierungsphase allerdings auch der europäischen und internationalen Vernetzung stellen müssen.

veröffentlicht in: Bürgerforum Paulskirche & Büro für notwendige Einmischungen (Hrsg.), Redaktionsleitung Frank Eyssen, Anleitung zum politischen Ungehorsam, München 1993, S, 236-254