(Deutsche, vom Referat für Flüchtlingsarbeit und Migration des Ökumenischen Rates in Genf veröffentlichte und von Herbert Leuninger eingescannte, nicht-authorisierte Fassung)

Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen vom 24. September 1995 zu Entwurzelten Menschen

EIN MOMENT DER ENTSCHEIDUNG:
SOLIDARITAT MIT DEN ENTWURZELTEN

Auf allen Kontinenten werden Menschen durch Gewalt und Verzweiflung gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Millionen sind vertrieben worden und warten auf eine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Die Kriege ziehen sich hin und infolgedessen verschlechtern sich die wirtschaftliche Lage und die ökologischen Bedingungen in vielen Ländern – für entwurzelte Menschen wird es immer schwieriger, eine Lösung zu finden. In allen Teilen der Welt schließen die Regierungen die Grenzen. Allzu viele Kirchen wenden sich ab von den Fremden, die an ihre Tür klopfen. ,

Hinter dem massiven, weltumspannenden Problem der Entwurzelung in der heutigen Welt verbergen sich Geschichten persönlichen Leides, auseinandergerissener Familien und Schmerzen. Mehr als jeder fünfzigste Mensch ist heute Flüchtling oder internationaler Migrant. Die meisten von ihnen sind Frauen, Jugendliche und Kinder. Die überwiegende Mehrheit verlässt Länder im Süden und bleibt im Süden.

Menschen verlassen ihre Gemeinschaft aus vielerlei Gründen und tragen vielerlei Namen: Flüchtlinge, Vertriebene im eigenen Land, Asylsuchende, Wirtschaftsflüchtlinge. Als Kirchen helfen wir allen, die durch schwierige politische, wirtschaftliche und soziale Bedingungen gezwungen sind, ihr Land und ihre Kultur zu verlassen - unabhängig von der Bezeichnung, die andere ihnen geben mögen. Entwurzelte Menschen sind Menschen, die gezwungen sind, ihre Gemeinschaften zu verlassen: sie fliehen vor Verfolgung und Krieg, sie werden wegen Umweltzerstörung zwangsweise umgesiedelt oder müssen in einer Stadt bzw. im Ausland nach Unterhaltsmöglichkeiten suchen, weil sie zu Hause nicht überleben können. Im Mittelpunkt dieser Erklärung stehen die Entwurzelten, wobei wir natürlich nicht vergessen, daß viele andere weiterhin in äußerst schwierigen Situationen leben.

Auch wenn die Wanderbewegungen ganzer Bevölkerungsgruppen in den letzten Jahren an Geschwindigkeit zugenommen haben - sie waren schon immer Teil der Menschheitsgeschichte. Obwohl wir alle in einer multikulturellen, multiethnischen, multireligiösen und vielsprachigen Gesellschaft leben, sehen wir den Fremden nicht immer als Christus unter uns. Wenn Kirchen sich dem Fremden in ihrer Mitte verschließen, wenn sie nicht mehr nach einer integrativen Gemeinschaft streben, die Zeichen und Vorwegnahme des Reiches Gottes ist, verlieren sie ihre Daseinsberechtigung.

Wir rufen die Kirchen in aller Welt auf, ihre Identität, Integrität und Berufung als Kirche des Fremden neu zu entdecken. Der Dienst an entwurzelten Menschen wurde schon immer als Diakonie anerkannt, obwohl er im Leben vieler Kirchen eine marginale Stellung einnimmt. Wir bekräftigen jedoch, daß es sich auch um eine kirchliche Frage handelt. Wir sind eine Kirche des Fremden - die Kirche Jesu Christi, des Fremden. (Matthäus 25, 3 1 -46)

Angesichts der zunehmend restriktiven Ausländerpolitik der Regierungen und der wachsenden Fremdenfeindlichkeit der Öffentlichkeit in allen Teilen der Welt stehen die Kirchen vor einer noch nie dagewesenen Alternative: Werden sie sich dafür entscheiden, Kirche des Fremden zu sein und sich auf die Seite der Entwurzelten zu stellen, oder werden sie sich abwenden und die Frage ignorieren? Werden sie die Problematik der Entwurzelung ihren Flüchtlingsprogrammen überlassen oder werden sie den Ausdruck der Universalität des Evangeliums und die Heimat für diejenigen verkörpern, die nach Anerkennung ihrer Menschenwürde streben?

Koinonia verlangt einen hohen Preis und stellt uns vor die Herausforderung, mit allen Konsequenzen das Risiko einzugehen, uns für andere hinzugeben. In einigen Ländern ist es gefährlich, mit entwurzelten Menschen zu arbeiten. Vielerorts wird es in den örtlichen Gemeinden nicht gerne gesehen, wenn man auf die Entwurzelten eingeht, denn man befaßt sich schon mit den vielen dringenden Problemen "unserer eigenen Leute". Wenn die Kirchen die Ursachen einer solchen Entwurzelung kritisieren, dann müssen sie auch bereit sein, den Preis zu zahlen, den eine Konfrontation mit den etablierten Kräften und den Privilegierten mit sich bringt.

Diese Erklärung richtet sich an die Kirchen. Als christlicher Haushalt müssen wir unsere Unzulänglichkeiten anerkennen und eingestehen. Und ' wir müssen auf Umkehr und Erneuerung hinarbeiten. Die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses und unserer Fürsprache muss sich ebenso auf unsere Erfahrung und unser Engagement wie auf unsere Überzeugungen stützen.

Entwurzelte Menschen erinnern uns an die Ungerechtigkeit unserer Welt. Der Verfall im sozialen, politischen und menschenrechtlichen Bereich macht es dringend erforderlich, daß wir uns mit der Sündhaftigkeit ungerechter Systeme und Strukturen befassen.

WIR SIND EMPÖRT ÜBER DIE GEWALT UND UNGERECHTIGKEIT, DIE MENSCHEN ENTWURZELT, UND ÜBER DAS DADURCH VERURSACHTE LEIDEN

Die vielfachen Ursachen von Vertreibung:

1. Krieg, Bürgerkrieg, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung aus politischen, religiösen, ethnischen oder gesellschaftlichen Gründen sind in allen Regionen zu finden und sind gegenwärtig die Hauptursachen für die Vertreibung von Menschen.

In der Vergangenheit unterdrückte ethnische und Nationalitätenkonflikte sind im letzten Jahrzehnt explosionsartig in offene Kriege umgeschlagen. Religion und ethnische Zugehörigkeit werden für engstirnige nationalistische Ziele eingesetzt und spalten pluralistische Gesellschaften. Immer mehr Zivilpersonen werden Opfer von Gewalt - z.T. aufgrund der verbreiteten Verfügbarkeit von Waffen und gegen Menschen gerichtete Minen. Millionen sind durch Gewalt entwurzelt worden: 30 Millionen sind Flüchtlinge innerhalb der eigenen Landesgrenzen, und weitere 19,5 Millionen flohen in andere Länder.

Rund 10 Millionen Menschen werden jedes Jahr in der Folge von gezielten "Entwicklungsprogrammen" umgesiedelt. Dazu zählt die Überflutung großer Gebiete durch Staudämme oder die Einführung vollmechanisierter Landwirtschaftsbetriebe anstelle des Anbaus für den Eigenbedarf.

3. Umweltzerstörung erweist sich als einer der wichtigsten Gründe für die Vertreibung von Menschen in großem Umfang.

Die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt - einschließlich Entwaldung, Schwinden der Erdkrume, Versteppung - und die nicht rückgängig zu machende Erosion von Ackerland führen dazu, daß traditionelle Kulturlandschaften unbewohnbar werden. Schätzungen gehen davon aus, daß heute 10 bis 25 Millionen Menschen aus Umweltgründen vertrieben wurden.

Die Herstellung sowie das Testen und Stationieren von Waffen bei "friedlichen" Manövern und in Kriegszeiten haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Umwelt und machen es unmöglich, das Land für eine umweltverträgliche Bewirtschaftung und damit für das Überleben der Menschen zu nutzen. Die wiederaufgenommen Atomtests gefährden auch weiterhin das Überleben der Gemeinschaften und führen zur dauerhaften Vertreibung von Menschen in dieser Region.

Das Ansteigen des Meeresspiegels und die zunehmende Stärke von Stürmen, Zyklonen, Flutwellen und Erdbeben, lassen auf größere Wanderbewegungen in der nahen Zukunft schließen. Diese Vorboten einer weltweiten Erwärmung führen zum Untergang von Inselstaaten und anderen dichtbevölkerten Tieflandzonen in den nächsten Jahrzehnten, wenn diesem Klimawandel nicht Einhalt geboten wird.

Die Erschöpfung natürlicher Rohstoffe zusammen mit einer Verschlechterung der Wirtschaftslage zwingt die Menschen nicht nur dazu, ihre Gemeinschaften zu verlassen, sondern trägt darüber hinaus zu Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen bei.

Die Abkehr von den Entwurzelten:

Mit der weltweit zunehmenden Anzahl entwurzelter Menschen nimmt auch die Bereitschaft, ihnen Schutz zu gewähren, rapide ab. Regierungen in allen Regionen, an der Spitze diejenigen des industrialisierten Nordens, führen restriktive Einwanderungsbestimmungen und drakonische "Abschreckungsmaßnahmen" ein, um die Einreise von Asylsuchenden und Migranten zu verhindern. Dies führt dazu, daß Menschen, deren Leben und Menschenrechte geschützt werden müßten, regierungsamtlich ausgeschlossen und gebrandmarkt werden.

Weltweit läßt sich die Tendenz beobachten, daß die Verantwortung gescheut wird, sich mit den Ursachen und Auswirkungen der Zwangsvertreibung von Menschen auseinanderzusetzen. Während letztlich keine Gesellschaft eine unbegrenzte Anzahl von Vertriebenen aufnehmen kann, werden zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenige Mittel darauf verwandt, den Bedingungen vorzubeugen oder sie abzubauen, die die eigentliche Ursache der Entwurzelung von Menschen sind.

In allen Teilen der Welt nimmt die Solidarität der Öffentlichkeit mit den Menschen ab, die vor Gewalt und Armut fliehen. Der gefährliche Anstieg von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit findet häufig Ausdruck in Gewaltakten gegen Flüchtlinge und Einwanderer. Diese werden oft zum Sündenbock für zahlreiche soziale und wirtschaftliche Spannungen in der Gesellschaft und zur Zielscheibe eines wachsenden Hasses.

In vielen Ländern stellt diese Kombination von öffentlicher Feindseligkeit und restriktiven staatlichen Maßnahmen eine Bedrohung für Rechtsprechung und demokratische Werte dar. Die vorgeschlagenen oder bereits in Kraft gesetzten Maßnahmen zur Kontrolle des Zugangs von Ausländern beschneiden in der Regel ebenfalls die Bürger- und Menschenrechte der Staatsangehörigen und Einwohner.

Die Normen des Völkerrechts über das besondere Schutzbedürfnis entwurzelter Frauen und Kinder werden nicht respektiert.

Einige führende religiöse Persönlichkeiten vermeiden es heute oder lehnen es ausdrücklich ab, sich der verbreiteten Gewalt gegen Ausländer oder "andere" zu widersetzen. Zu viele religiöse Einrichtungen, auch Kirchen, bleiben gleichgültig. Zu wenige Gemeinden heißen Neuankömmlinge anderer rassischer, ethnischer oder nationaler Herkunft willkommen oder nehmen sie auf. Zahlreiche Kirchen und Christen sind in Strukturen eingebunden, die Menschen ausgrenzen und unterdrücken.

Die Folgen der Entwurzelung für die Menschen:

Eine der dramatischsten Folgen der Vertreibung ist für die aus ihrer Gemeinschaft herausgerissenen Menschen der Verlust ihrer Menschenwürde, unabhängig von Klassenzugehörigkeit oder Geschlecht. Dieser Verlust an Würde wird oft durch paternalistisches Verhalten seitens derjenigen, die versuchen zu helfen, auf die Spitze getrieben.

Entwurzelte Menschen erleben vielfältige Verluste: Familie, Freunde und Gemeinschaft, spirituelle, religiöse, und kulturelle Bindungen, die ihre Identität festigen und bestimmen, sozialer Status, Eigentum, Arbeit und finanzielle Mittel. Meistens müssen sie mit mehreren Problemen gleichzeitig fertig werden. Für Menschen aus ländlichen Regionen oder Angehörige von Urvölkern führt der Landverlust zum Verlust von wirtschaftlicher Selbständigkeit und kultureller und spiritueller Identität.

Gewalt, Ablehnung und rassistische Feindseligkeit gegen entwurzelte Menschen verstärken die Traumata der Zwangsmigration durch eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit, der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und der Möglichkeit, am Ort der Zuflucht oder des vorübergehenden Aufenthalts Arbeit zu finden und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Diese Form von Gewalt und Ungerechtigkeit gehört zu der weltweit wachsenden Welle von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und schafft Privilegien und Sicherheit für die einen und Unsicherheit und Ausgrenzung für die anderen.

Die Eingriffe in das Leben von Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg haben besonders schwerwiegende Folgen. Frauen und Kinder sind am stärksten betroffen. Die Bedrohung durch und die Folgen von sexueller Gewalt gegen entwurzelte Frauen und Mädchen verletzen ihre Menschenwürde und persönliche Integrität und erschweren ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Ihr körperliches, seelisches und psychisches Wohlbefinden wird schwer geschädigt.

Organisierter Menschenhandel ist eine neue Form der Sklaverei; er zerstört die Menschenwürde und das Wohl einzelner Menschen und ganzer Familien.

Das Herausreißen der Kinder aus ihren Familien und ihren Gemeinschaften macht sie besonders anfällig für Bedrohungen ihres Lebens und ihrer Sicherheit. Kinder, die in Flüchtlingslagern und in Kriegs- oder Konfliktsituationen leben, können nicht mehr zur Schule gehen und haben daher Bildungsmängel. Das hat langfristige Folgen sowohl für die Kinder als auch für die Gesellschaft.

Die Gewalt und Ungerechtigkeit, die zur Entwurzelung von Menschen führt, und das daraus entstehende Leid stellen uns vor die Herausforderung, unsere Überzeugungen als Grundlage für eine christliche Antwort neu zu formulieren

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ALS CHRISTEN HABEN WIR DIE FOLGENDEN ÜBERZEUGUNGEN

1. Wir bekräftigen die Unantastbarkeit allen menschlichen Lebens und die Heiligkeit der Schöpfung

"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde... Und Gott sah, daß es gut war... Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde... " (l. Mose 1)

Alle Menschen sind nach Gottes Bild geschaffen. Die Achtung der Menschenwürde und der Wert jedes und jeder einzelnen ungeachtet von Alter, Fähigkeiten, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Klasse, Nationalität und Religion sind grundlegend für unseren Glauben. Unser Glaube verpflichtet uns dazu, dafür zu sorgen, daß das menschliche Leben und die körperliche und persönliche Sicherheit durch Recht und Institutionen gewahrt bleiben.

Keine Gesellschaft kann in Frieden mit sich oder der Welt leben, ohne sich des Wertes und der Würde jedes menschlichen Wesens und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens voll bewußt zu sein.

Die Schätze der Erde sind uns anvertraut worden, und deshalb sind wir für den Schutz und die Pflege der Schöpfung verantwortlich. Wo die Schöpfung nicht gepflegt wird, werden die Menschen vertrieben.

Wir Christen werden ermutigt durch die prophetische Tradition und durch das Kapitel 21 der Offenbarung, die uns ein Bild Gottes vermitteln, der beständig "alles neu macht und uns auffordert, uns an seinem Erneuerungswerk zu beteiligen.

2. Die biblischen Werte Liebe, Gerechtigkeit und Frieden zwingen uns dazu, die christliche Antwort auf Marginalisierung und Ausgrenzung zu erneuern.

' Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt'. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'. " (Matth. 22, 37-39)

Das Reich Gottes ist die Vision einer gerechten und geeinten Welt. Die Herausforderung der Prophezeiung und der Lehre Jesu besteht darin, Christen zu befreien und in die Lage zu versetzen, den Mut aufzubringen, für eine neue Gemeinschaft und für Frieden und Gerechtigkeit zu arbeiten - und das bedeutet, sich mit den Ursachen der Entwurzelung zu befassen.

Der Kern der Lehre Jesu ist das Gebot, Gott zu lieben, und seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Die Christen sind dazu aufgerufen, der Frohen Botschaft der Entscheidung Gottes zugunsten der Marginalisierten und Ausgegrenzten zu folgen. Die Liebe Christi kennt keine Bedingungen. Jesus zögerte nicht, den Preis der selbstaufopfernden Liebe zu zahlen.

Der Prophet Micha (6,8) fordert die Gläubigen auf, Gottes Wort zu halten, Liebe zu üben und demütig zu sein vor ihrem Gott. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden, und ohne Frieden keine völlige Gerechtigkeit. (Amos 5,24) Unser Glaube verpflichtet uns dazu, für Gerechtigkeit und Frieden für alle zu kämpfen; an einer Welt zu arbeiten, in der wirtschaftliche, politischen und soziale Einrichtungen den Menschen dienen und nicht umgekehrt.

In der Tradition der Erlaßjahre (3. Mose 25, 5. Mose 15, Jesaja 61, 1-2) ist das Erbarmen an die erneute Selbstverpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit gebunden. Das Erlassjahr ist ein neuer Anfang, ein Ausgangspunkt für einen Prozeß der Versöhnung und des Wiederaufbaus der Gemeinschaft, der neue Hoffnung keimen läßt.

3. Die Bibel fordert uns auf, integrative Gemeinschaften zu bilden und die Entwurzelten in Dienst und Zeugnis zu begleiten.

So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. (Eph. 2, 19)

Jesus selbst wurde von vielen Angehörigen seines eigenen Volkes geächtet, weil er sich mit den Ausgestoßenen und Ausgegrenzten identifizierte. Das Evangelium berichtet, dass Jesus die Liebe zum Fremdling und die Feindesliebe zum Grundstein der integrativen Gemeinschaft der Kinder Gottes gemacht hat. Darin folgte er der Tradition des Alten Testaments, die gebietet, den Fremdlingen Gastrecht zu gewähren (2. Mose 23,9; 3. Mose 19,33-34; 5. Mose 24, 14-19; Jeremia 5-7).

Die Christen sind dazu aufgerufen, sich auf die Seite der Unterdrückten, der Verfolgten, der Marginalisierten und der Ausgegrenzten in ihrem Leid, ihrem Ringen und ihrer Hoffnung zu stellen. Die Begleitung der Entwurzelten und die Fürsprache für sie verkörpern die Grundsätze des prophetischen Zeugnisses und Dienstes - Diakonie. Wir können die "Bedürftigen" nicht im Stich lassen oder dem Erbarmen Grenzen setzen (Hebr. 13, 2; Lukas 10, 25-37, Römer 12, 13).

Das Volk Gottes wurde sesshaft, um seinen Auftrag, seinen Dienst und die Verheißung Gottes zu erfüllen, und doch sind die Glaubenswege entwurzelter Menschen ein Erbe der gesamten Kirche. Ebenso wie die alttestamentarischen Exilberichte durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch ein Ausdruck unseres Verständnisses von der Liebe Gottes gewesen sind, so muss die Kirche auch heute das Wort Gottes aus dem Zeugnis entwurzelter Menschen empfangen.

In der Verkündigung der Botschaft der Hoffnung für alle Menschen und in der Erinnerung an die Gemeinschaft in Jesus Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung erleben die Kirchen ihre Berufung als lebensfähige und integrative Gemeinschaften; sie begleiten die Menschen, teilen deren Hoffnungen und Leiden und bieten ihnen Raum.

Unsere christlichen Überzeugungen zwingen uns zu einer Erneuerung des kirchlichen Handelns zum Schutze des Lebens und der Würde, zur Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit und zur Schaffung einer Gemeinschaft mit den Entwurzelten.

WIR FORDERN CHRISTEN UND KIRCHEN ZUM HANDELN AUF

Das Handeln beginnt mit einer selbstkritischen Prüfung der Erfolge und des Versagens und einem erneuten Eingehen der Kirchen auf entwurzelte Menschen und die Ursachen ihrer Vertreibung. Erneuerung setzt voraus, dass die theologische und biblische Reflexion über die Ursachen der Vertreibung und die Bedürfnisse der Entwurzelten in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens gestellt werden. Die Frage der entwurzelten Menschen muß in die Entscheidungsinstanzen und in die mittelvergebenden Gremien hineingeraten werden. Kirchliche Gremien und Programme, die sich mit diesen Anliegen befassen, müssen eingerichtet oder ausgebaut werden.

Die Aufgabe ist ökumenisch und global. Die Kirchen müssen untereinander und in Partnerschaft mit andern Bereichen der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Viele verschiedene Organisationen setzen sich sehr engagiert für entwurzelte Menschen ein; kein Bereich kann auf sich allein gestellt die systembedingten Ursachen der Entwurzelung abbauen.

Nach praktischen Wegen zur Bekämpfung der Ursachen und Folgen der Entwurzelung zu suchen bedeutet auch, sich auf Gespräche mit Regierungen einzulassen. Das erfordert von den Kirchen eine Prüfung der Möglichkeiten, ihre Überzeugungen nicht zu verraten und gleichzeitig Kompromisse auszuhandeln, die zur politischen Auseinandersetzung auf Landes- und internationaler Ebene gehören.

Wir fordern uns selbst, die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates und ökumenische Organisationen auf, sich an Kampagnen zum Schutz des Lebens und der Menschenwürde zu beteiligen, sich für Gerechtigkeit und Frieden in unserer Welt einzusetzen und entwurzelte Menschen zu begleiten.

Die Aktionen, die Christen und Kirchen durchführen können, werden entsprechend der verschiedenen nationalen und regionalen Situationen und je nach den Möglichkeiten der Kirchen unterschiedlich ausfallen. Wir bitten die Kirchen darum, einander zu unterstützen und zusammenzuarbeiten.

1.SCHUTZ DES LEBENS UND DER MENSCHENWURDE ENTWURZELTER MENSCHEN

Wir fordern die Mitgliedskirchen auf, alle entwurzelten Menschen - Flüchtlinge, Vertriebene im eigenen Land und Migranten - zu schützen und sich dafür einzusetzen, dass sie geachtet werden.

A. Schutz des Lebens und der Sicherheit w Entwurzelten Menschen Unterkunft oder Zufluchtsorte zur Verfügung stellen.

>Mittel für Flüchtlingssiedlungen zur Verfügung stellen. Gefährdeten Menschen ihre Kirchen öffnen.

> Den Schutz entwurzelter Frauen und Mädchen gegen alle Formen der Gewalt sicherstellen.

> Sich für einen umfassenden Rechtsschutz für Kinder einsetzen, die entwurzelt oder von bewaffneten Konflikten betroffen sind.

> Gegen Regierungsstrategien protestieren, die eine Einschränkung des Schutzes entwurzelter Menschen zum Ziel haben.

B. Durchsetzung von Rechten und Menschenrechten

> Hilfe für Einzelpersonen und Familien bei rechtlichen Schritten im Zusammenhang mit Asylgesuch oder Zufluchtsort.

> Beistand an Grenzübergängen, auf Flughäfen und in Flüchtlingslagern, wo entwurzelte Menschen der Gefahr von Übergriffen ausgesetzt sind.

> Unterstützung von Migranten und Vertriebenen bei der Einforderung ihrer Menschenrechte gemäß nationaler und Die Gewalt und Ungerechtigkeit, die zur Entwurzelung von Menschen führt, und das daraus entstehende Leid stellen uns vor die Herausforderung, unsere Überzeugungen als Grundlage für eine christliche Antwort neu zu formulieren internationaler Normen.

>Sich an die Regierung wenden, um aufgrund einschlägiger internationaler Instrumente Schutz zu erhalten.

>Stellung nehmen, Erklärungen abgeben und Entschließungen verabschieden, um Gewalt gegen Ausländer zu verurteilen und für unrechtmäßig zu erklären.

C. Förderung internationaler Normen

>Die Ratifizierung und vollständige Umsetzung der UN-Flüchtlingskonvention und der Zusatzprotokolle fördern.

>Die Ratifizierung und Umsetzung der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer/innen und ihrer Familien fördern.

> Die Internationale Übereinkunft über die Rechte des Kindes für Dienst und Fürsprache zugunsten entwurzelter Kinder zu nutzen. > Sich an Bemühungen zur Entwicklung internationaler und nationaler Mechanismen zum Schutz entwurzelter Menschen beteiligen, die durch die bestehenden Gesetze nicht erfaßt werden, d.h. derjenigen, die im eigenen Land vertrieben wurden oder bei denen eine freiwillige Repatriierung nicht möglich ist.

2.EINSATZ FÜR FRIEDEN UND GERECHTIGKEIT

Wir rufen die Kirchen dazu auf, sich mit den Ursachen
der Vertreibung zu befassen.

A. Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gründe der Entwurzelung

>Anhören und Verstehen der Lebensgeschichten von entwurzelten Menschen, die die Gründe der Flucht und die Hoffnung auf eine Heimkehr beschreiben.

>Überprüfung der Rolle der Regierungen bei der Entstehung von Situationen, die zur Entwurzelung führen.

>Einschätzung der Möglichkeiten der Kirchen, die Ursachen anzugehen.

B. Umfassendes Engagement für Friedensstiftung und Konfliktlösung

> In den Kirchen Erziehung zum Frieden und zur Verantwortung für die Welt durchführen.

> Mit ausgebildeten Fachleuten im Bereich der Konfliktlösung, Vermittlung und Verhandlung zusammenarbeiten, um sichere Sozialräume für humanitäre Hilfe in Flüchtlingslagern und für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft zu schaffen.

> "Friedensgemeinschaften" einrichten.

>Bündnisse mit Basisgruppen, Organisationen und Gewerkschaften aufbauen, die im Bereich der Menschenrechte, der wirtschaftlichen Gerechtigkeit sowie der Gerechtigkeit und des Friedens unter Rassen und Ethnien aktiv sind.

>Für verantwortliches internationales Handeln, insbesondere durch die Vereinten Nationen, eintreten, um Konflikten vorzubeugen oder diese zu lösen, damit die Menschen in ihren Heimatgemeinschaften bleiben oder in diese zurückkehren können.

C. Streben nach wirtschaftlicher und sozialer Fülle des Lebens • Örtliche Alternativen für wirtschaftliche Eigenständigkeit fördern.

• Die Achtung der Rechte und die uneingeschränkte Beteiligung von Frauen als Teil des Aufbaus lebensfähiger Gemeinschaften unterstützen.

> Den Dialog mit Umweltschutzgruppen und Rechtsexperten aufnehmen, um Wege zu finden, die ökologischen Ursachen der Vertreibung anzugehen.

D. Förderung des Rechtes der Menschen, sicher und in Würde in ihrem Heimatland zu leben

> Darauf dringen, dass Handels-, Entwicklungs- und Investitionspolitik die Schaffung von Bedingungen fördert, die den Menschen erlauben, in ihrem Heimatland zu bleiben.

>Für das Recht der Ureinwohner und der unter Kolonialherrschaft lebenden Völker eintreten, in ihrem Heimatland bleiben oder dorthin zurückkehren zu können.

 

3.GEMEINSCHAFT MIT DEN ENTWURZELTEN SCHAFFEN

Wir appellieren an die Kirchen, entwurzelten Menschen mit diakonischen Diensten, Unterstützung und Solidarität ohne Unterschied zur Seite zu stehen.

A. Entwurzelten Menschen beistehen bei der Entscheidung zu bleiben, das Land zu verlassen oder heimzukehren

> Eine aktive Präsenz bei Menschen unterhalten, die sich entscheiden, in ihrem Heimatland zu bleiben oder dieses zu verlassen.

>Für eine sichere Rückkehr und Reintegration in bestandsfähige Gesellschaften eintreten und diese überwachen; dazu zählt die Begleitung entwurzelter Menschen bis in ihre Heimatländer und die Berichterstattung über diesen Prozeß.

B. Dienste anbieten, die materielle, soziale und seelische Bedürfnisse befriedigen

>Für die volle Beteiligung von entwurzelten Menschen an der Planung, Umsetzung und Auswertung von Programmen, Diensten und ökumenischen Initiativen sorgen.

> Seelsorge und Krisenhilfsdienste für Einzelpersonen und Familien anbieten.

> Die Zugänglichkeit von Programmen fördern, die sich mit den besonderen Bedürfnissen von entwurzelten Frauen befassen, und deren Beteiligung am Gemeinschaftsleben unterstützen.

> Dafür eintreten, daß von ihren Familien getrennte Kinder in familienähnlichen Situationen untergebracht werden.

> Die Zugänglichkeit von Programmen fördern, die für die geistige, seelische, körperliche und schulische Entwicklung entwurzelter Kinder erforderlich sind.

> Beim UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, der Internationalen Organisation für Migration und anderen internationalen Einrichtungen für angemessene Bestimmungen über materielle Hilfe und die Förderung der Menschenwürde entwurzelter Menschen eintreten.

C. Initiativen entwurzelter Menschen unterstützen

> Entwicklungsmöglichkeiten für Gemeinschaften bieten, die entwurzelte Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu versorgen.

> Einzelpersonen und Organisationen entwurzelter Menschen dazu befähigen, ihre eigenen Bedürfnisse und Probleme zu definieren und auf diese einzugehen.

> Entwurzelte Menschen unterschiedlichen Glaubens dabei unterstützen, ihre religiösen Überzeugungen auszuüben.

> Bündnisse mit Organisationen und Gemeinschaften entwurzelter Menschen schließen.

D. Zusammen mit entwurzelten Christen die Kirche sein

>Die Voraussetzungen dafür schaffen, dass entwurzelte Christen sich von der Gemeindeebene bis hinauf zur Kirchenleitung uneingeschränkt am Leben der Kirche beteiligen können.

>Sich die Vielfalt der christlichen Traditionen zu eigen machen. > Entwurzelten christlichen Gemeinschaften den Wiederaufbau von eigenen Gemeinden zu ermöglichen. >Mit anderen Kirchen bei der Entwicklung von Initiativen mit entwurzelten Menschen zusammenarbeiten. >Die geistlichen Gaben entwurzelter Menschen empfangen.

E. Leben in Vielfalt >Begegnungen zwischen Gastgebern und entwurzelten Menschen organisieren und sich an diesen beteiligen, um Vorurteile, Angst und Mythen abzubauen. >Kampagnen zur Verhütung und Bekämpfung von Rassismus, Fremdenhass und Feindseligkeit gegen entwurzelte Menschen organisieren. > Den internationalen Austausch von kirchlichen Mitarbeitern innerhalb und unter den Regionen fördern.

F. Wiederherstellung der öffentlichen Solidarität

> Die Einrichtung von "Flüchtlingstagen/wochen" bzw. "Migrantenwochen" in Kirchen, Gemeinschaften und Ländern fördern.

> Den interreligiösen Dialog pflegen und, wo möglich, gemeinsam Gottesdienste halten und Gebete sprechen.

>Im gesamten kirchlichen Leben Bildungsarbeit und Bewußtseinsbildung bezüglich entwurzelter Menschen fördern.

ZEICHEN DER HOFFNUNG

Auch heute, wo sich viele unserer Gesellschaften von den Fremden in ihrer Mitte abwenden oder diese ignorieren, entscheiden sich Christen und Kirchen dafür, sich auf die Seite der entwurzelten Menschen zu stellen.. Einige Kirchen idendifizierten sich seit Jahrhunderten mit Fremden und Exilierten.

Es ist ein Zeichen der Hoffnung, wenn in Gemeinden und Kirchen der ganzen Welt neue Dienste, neue Träger ökumenischer Zusammenarbeit und neue Aktivitäten entstehen, deren Ziel der Schutz der Menschenwürde und die Schaffung einer bestandsfähigen Gemeinschaft ist:

> In zahlreichen riskanten Situationen stellen sich Christen und Kirchen bewußt auf die Seite der Entwurzelten. Christen öffneten entwurzelten Menschen ihre Kirchengebäude und Häuser.

> Eine ganze Anzahl von Christen und Kirchen leisten unter großen Risiken zivilen Ungehorsam geleistet, um entwurzelte Menschen zu schützen.

> Viele Kirchen und Gemeindegruppen bemühen sich um Hilfe und Schutz für Menschen, deren Leben und Sicherheit durch Zwangsrückführung oder Mißbrauch gefährdet ist.

> Einige Kirchen wagen es, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unter den eigenen Mitgliedern zu kritisieren.

> Die Überlebensstrategien entwurzelter Menschen zeigen, wie gut diese in der Lage sind, sich gegen Angriffe auf ihre Menschenwürde zu verteidigen und sich für die eigenen Belange einzusetzen.

> Im Norden und Süden kämpfen religiöse Einrichtungen, Basisorganisationen, Bürgerinitiativen und Familien darum, alternative, auf lebenspendenden Werten beruhende Lebensformen zu schaffen.

Wir bekräftigen, daß der Platz der Kirche an der Seite der Entwurzelten ist. Wir rufen die Mitgliedskirchen auf, durch Zeugnis und Dienst auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens ihre Identität als Kirche des Fremden neu zu entdecken...

JETZT DER ZEITPUNKT GEKOMMEN, UNS AUF DIE SEITE DER ENTWURZELUN ZU STELLEN

Einstimmig angenommen vom Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen am 22. September 1995