Die beiden noch lebenden Söhne Herbert (2. v.l.) und Walter (3.v.l.).
Links und rechts neben ihnen die beiden Neffen Ernst und Herbert Leuninger























Franz Leuninger mit Familie bei einem Ausflug in Breslau.

Unser Vater -


Walter Leuninger

S

ehr geehrte Gäste, liebe Mengerskircher Bürger,
liebe Kolleginnen und Kollegen und Kinder der Franz-Leuninger-Schule,

heute vor 50 Jahren, es ist bereits angesprochen worden, ist mein Vater gestorben. Trauer und Zorn darüber sind in diesem langen Zeitraum allmählich verflogen und einem anderen Gefühl gewichen. Heute, ich muß es sagen, bewegt mich in erster Linie der Stolz, daß ich einen solchen Vater gehabt habe. Ich habe deshalb nicht die Absicht, hier jetzt eine Trauerrede zu halten. Ein halbes Jahrhundert ist es ja nun schon her. Es könnte also sein, daß ich in meinem Gespräch mit Ihnen etwas profaner bin, als der ursprüngliche Anlaß es eigentlich hergibt.

Mein Vater ist am 28.12.1898 in Mengerskirchen geboren. Er hat hier geheiratet. Seine Frau, unsere Mutter, stammte auch aus Mengerskirchen. Er ist, wie man leicht nachrechnen kann, im 47. Lebensjahr gestorben. Ich möchte Ihnen nun ein Bild davon machen, wie mein Vater war, wie ich ihn erlebt habe.

Meine Erinnerung an ihn beginnt Anfang der 30er Jahre in Breslau. Ich selbst bin nicht in Breslau geboren, sondern in Krefeld. Wenn ich mich erinnere an die Zeit, die ich mit meinen Eltern bewußt erlebt habe, kann ich zunächst einmal nur sagen, wir waren eine völlig normale Familie. Wir waren drei Brüder, der älteste, Franz, nach meinem Vater benannt, ist im April 1945, also noch nach dem Tode meines Vaters, bei Aschaffenburg gefallen. Wir haben das erst knapp zwei Jahre nach seinem Tod erfahren, denn damals ging es ja drunter und drüber in Deutschland. Ich bin der zweite, Walter, und der dritte, mein Bruder Herbert, sitzt hier vor mir.

Wir haben in unserer Familie eine wirklich friedliche und angenehme Atmosphäre gehabt. Das war wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, daß meine Eltern sich ausgezeichnet verstanden haben, obwohl beide mit genügend Temperament gesegnet waren. Vor allen Dingen mein Vater. Er war wohl ausgeglichen, aber er konnte auch sehr temperamentvoll sein. Er war ein treusorgender Familienvater. Er hat uns zu jederzeit, auch noch im Krieg sehr gut versorgt, so lange er die Gelegenheit dazu hatte. Ein Ausbund an Geduld war er nicht. Er war ein Vater, wie man sich ihn eigentlich wünschen sollte. Er war in seiner Normalität als Ehemann und Vater, meine ich, ein Vorbild, weil er so normal war.

Wissen Sie, man kriegt ja doch heute im Fernsehen die Väter vorgeführt. Ich erinnere nur mal an das ganz krasse Beispiel "Bill Cosby" mit seiner Serie. Sicher kennen ihn alle Kinder. Also so einer war er sicher nicht. Das wäre auch zuviel verlangt gewesen. So Väter gibt es gar nicht. Er war also ein ausgesprochen lieber und fröhlicher Mann und sehr sangesfreudig. Überall wo er hinkam, war er beliebt, weil er schlagfertig war und mit intelligenten Witzchen aufwarten konnte. Er hatte für fast alle Probleme, mit denen wir zu ihn kamen, eine Lösung parat.

Hilfsbereitschaft war eine hervorstechende Eigenschaft. Ich kann mich erinnern, wir haben in den 30er Jahren das ein- oder anderemal Urlaub an der Ostsee gemacht. Da habe ich also mit großen Augen seine Hilfsbereitschaft miterlebt, wie wir im Wasser gebadet haben, darin geplätschert haben - nebenbei, mein Vater war kein guter Schwimmer - woher sollte er das auch sein. 1898 geboren, zu diesen Zeiten damals war es durchaus unüblich, in den Seeweiher hier baden zu gehen. Da gab's kaum jemanden in Mengerskirchen, der schwimmen konnte. Aber er konnte es wohl, wie er es sich beigebracht hat, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich gesehen, daß ein Mann im Wasser stand, mit dem Gesicht zum Ufer. Das Wasser stand ihm bis zum Kinn, und er fing auf einmal an, um sich zu schlagen und um Hilfe zu rufen. Mein Vater war in der Nähe. Wir waren da am plantschen, wie gesagt. Der Mann hatte durch die Tragfähigkeit des Wasser, und weil er sich zu weit hinausgewagt hatte ohne schwimmen zu können, den Boden unter den Füßen verloren. Da gerät ja ein Nichtschwimmer in Panik. Vater ist hingeschwommen - ich habe das ganz genau in Erinnerung - jetzt wo ich Ihnen das erzähle. Er ist nicht von vorne an den Mann heran, sondern von hinten, weil er wußte, es gibt unter Umständen ein Dilemma für sie beide, für den in Not geratenen als auch für meinen Vater, weil der halt auch nicht schwimmen konnte. Dann hat er mit sanften Bewegungen und mit entsprechend gutem Zureden, den Mann so zwei, drei Meter nach dem Strand zu bugsiert und damit war die Sache ausgestanden. Ich hab damals große Augen gemacht und im Nachhinein darüber nachgedacht, wie auf der einen Seite das Risiko bedacht worden war, aber auf der anderen Seite die Übersicht behalten wurde. Das waren hervorstechende Eigenschaften, die mein Vater gehabt hat.

Wir waren drei Buben. Mein Vater hatte aufgrund seiner Herkunft und seiner Entwicklung, kaum die Chance, eine gehobene Schulausbildung zu bekommen. Er hat wohl, wie man in Mengerskirchen sagt, in der Schule immer in der ersten Reihe gesessen. Die Kinder wurden ja in diesen Jahren nach ihrem Leistungsvermögen gesetzt. Also die Besten saßen vorne und die Schlechtesten saßen hinten. Heute macht man es wahrscheinlich - wenn überhaupt - umgekehrt.

Wir Buben sind alle drei nacheinander auf's Gymnasium gegangen. Mit unterschiedlichem Erfolg muß ich zugeben. Vater war sehr stolz darauf, daß wir alle auf's Gymnasium gingen, und er hat gerne zugehört, wenn wir Hausaufgaben machten. Besonders Latein hat ihn beeindruckt. Eines Tages fragte er mich: "Weißt Du, was ein ,Asinus in Quadratus' ist?" Ich war zunächst einmal verblüfft, weil ich ja wußte, daß er Latein nicht konnte. Da sagte er zu mir: "Ich sage es Dir, das ist ein Quadratesel. Sieh zu, daß Du keiner wirst."

Ein anderes Mal, seine Vorliebe für Latein ließ sich wohl damit erklären, daß ihn die Sprache doch sehr beeindruckt hat - sagte er: "Weißt du, ich erzähl' Dir das mal, wie der Pfarrer brevierbetender Weise durch die Felder geht. Es ist also nicht historisch hier in Mengerskirchen passiert, sondern sonst irgendwo anders. Er kommt also auf einer Wiese vorbei, auf der der Bauer steht mit der Sense seine Wiese mäht. Da sagt der Pfarrer im Vorbeigehen: "Ora et labora". "Ja, ja Herr Pfarrer", sagt der Bauer. Der Pfarrer geht weiter. Nach einer Zeit kommt er wieder zurück, und da sitzt der Bauer am Feldrain und macht gar nichts. "Hallo", sagt der Pfarrer, "Nix mehr ora et labora"? "Nein", sagt der Bauer "Sensuum defectui". (Hinweis: Er bezog sich hier auf ein altes lateinisches Kirchenlied, das mit einer Sense nichts zu tun hatte). Sehen Sie, über solche Sachen konnte er sich amüsieren, daß einem das Herz aufging.



Die Eltern in Breslau

Die Eltern Paula und Franz in Breslau

 
E

r war wirklich ein lebensfroher Mensch, dies möchte ich hier nochmals betonen.

Ausgeprägt war seine Liebe zu Mengerskirchen, seine Heimatliebe. Es gab für ihn nichts Schöneres, als hier in Mengerskirchen Ferien zu machen. Unsere Mutter war ja davon nicht so sehr begeistert. Wenn wir 5 Personen hier auf dem Damm in Ferien waren, da hatte sie mehr Arbeit als zu Hause. In Breslau hatten wir eine Hausangestellte. In Mengerskirchen mußte sie alles mit der Tante Anna und dem Gotche zusammen selber machen. Wenn mein Vater hier war, dann hat er sich überall reingehängt. Er ist mit aufs Feld gefahren. Er hatte die Sense geschultert, hat gemäht. Eine seiner Leidenschaften war, wenn dann die Himbeerzeit kam, mit uns Buben "in die Himbeeren" zu gehen. Mit 10 Liter Eimern sind wir losmarschiert. Ein Graus für uns mit kurzen Hosen, wir haben uns die Knie verbrannt an den vielen Brennesseln. Es war für uns immer ein Martyrium, aber es gab keine Gnade. Wir mußten mit.

Einmal sollte er einen Hühnerpferch bauen, weil die Glucke Küken hatte. Er hat also seinen Pferch gebaut, und nachdem der fertig war, da konnte sich also das Gotche gar nicht einkriegen, weil der Bau nicht so gut gelungen ist. Es hat dann Probleme mit den kleinen Hühnchen gegeben, die unter dem Zaun durchgeschlupft sind. Über ein besonderes handwerkliches Talent verfügte er also nicht.

Mein Vater war ein ausgesprochener Patriot. Ich weiß nicht, ob man das heute noch sagen darf. Heute sagt man ja, er hatte ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein, aber er war ein Patriot. Er war stolz darauf Deutscher zu sein, und ich darf Ihnen sagen, ich bin es heute auch noch. Ich muß immer daran denken, daß wir in 50 Jahren nach Ausgang des Krieges in Deutschland doch bewiesen haben, daß wir mit der Nazizeit fertig geworden sind, daß wir sie bewältigt haben, daß wir international eine Position und einen funktionierenden demokratischen Staat bekommen haben, der überall akzeptiert wird. Die Auswüchse, die es heute gibt, sie sind im Griff, denke ich mir, und die gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall.

Patriot war er, kein Chauvinist, sondern er hatte einfach ein tiefes Gefühl für seine Heimat, für sein Land. Das wird sicherlich einer der Auslöser für seine spätere aktive Tätigkeit im Widerstand gewesen sein.

Ich bin 1927 geboren, das heißt, ich war 1945 18 Jahre alt. Es ist so, daß ich einen Lebenslauf meines Vaters eigentlich nie gesehen habe. Ich kann also auch nur aus seiner Entwicklung berichten, so wie sie mir zugetragen worden ist.

Mit 14 Jahren ist er als Bauhilfsarbeiter ins Siegerland gegangen, sein älterer Bruder hat ihn mitgenommen. Dort ist er, weil er sich geschickt angestellt hat, weil er fleißig war, in relativ kurzer Zeit Maurer geworden. Redegewandt und schlagfertig war er immer. Er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Was lag da näher, als sich den Gewerkschaften zuzuwenden und sich in einer Partei zu engagieren. Das hat er dann auch getan. Er ist Mitglied der Gewerkschaften des "christlichen Bauarbeiterverbandes", so hieß das damals, geworden und wurde auch Mitglied der Zentrums-Partei. Man kann die Zentrums-Partei als die Vorläuferpartei der heutigen CDU bezeichnen.

Mein Vater war politisch sehr interessiert. In relativ kurzer Zeit wirkte sich das dahingehend aus, daß der christliche Bauarbeiterverband ihn gefragt hat, ob er denn nicht hauptamtlich tätig werden wolle. Das hat er dann auch getan, weil es auch seinem Temperament entsprach, seinem Gerechtigkeitssinn für soziale Fragen usw. Er ist dann beruflich tätig gewesen in Trier, in Euskirchen, in Krefeld, wo ich geboren wurde. Dann kam der Zeitpunkt Anfang der 30er Jahre, daß er gefragt wurde, ob er in Niederschlesien als Bezirksleiter tätig sein und dort Aufbauarbeit leisten wolle. Da auch Risikobereitschaft zu seinen Charakteristika gehörte, hat er das natürlich angenommen. Wenn ich mir das so vorstelle, mit Frau und drei Kindern nach Niederschlesien zu gehen. Das galt damals in Mengerskirchen noch als polnisch, obwohl es ja nicht der Fall war. In Breslau wurde nur deutsch, hochdeutsch gesprochen. Er ist also dann nach Breslau und hat dort für den christlichen Bauarbeiterverband seine berufliche Tätigkeit aufgenommen. Nach wenigen Jahren wurde er, weil er ja Mitglied der Zentrums-Partei geblieben war, in Breslau Stadtverordneter. Für die Reichstagswahlen im März 1933 war er als Reichstagskandidat für die Zentrums-Partei aufgestellt. Aber wir wissen, daß Hitler am 30. Januar 1933 die Macht übernommen hat und sowohl die Zentrums-Partei, die politischen Parteien insgesamt bis auf eine, nämlich die NSDAP, verboten wurden. Auch die Gewerkschaften wurden verboten. Damit war ja seine berufliche Existenz zunächst einmal zerstört.

Es hat aber nicht lange gedauert. Ich hatte es ja vorhin schon angesprochen, er war wirklich ein cleverer, intelligenter, redegewandter Mann. Er hatte im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit und auch im Rahmen seiner parteipolitischen Betätigung soviel Kontakte geknüpft gehabt, daß es nur kurze Zeit dauerte, bis eine Siedlungsgesellschaft Namens "Deutsches Heim" in Breslau ihn gefragt hat, ob er nicht zu ihnen in die Geschäftsleitung eintreten wolle. Das hat er dann getan und wurde dort im Laufe der Jahre zweiter Direktor. Wenn ich mir vorstelle, welche berufliche Entwicklung er genommen hatte, dann muß ich sagen, man kann dies nur hochachtungsvoll registrieren. Aus einem Nobody in Mengerskirchen, wenn ich's mal so vorsichtig ausdrücken darf, in eine solche Position.

Uns gings dann in Breslau gut. Mein Vater hat ein Zweifamilienhaus gebaut, in dem wir gewohnt haben. Wir hatte ein Auto. Wir drei Buben hatten damals jeder ein Fahrrad. Stellen Sie sich das einmal vor. Damals war das was. Heute werden die Fahrräder für 1.000 DM und mehr gekauft. Aber daß man damals überhaupt eins hatte, das war schon was Besonderes.

Ein gemäßigter Wohlstand hat uns das Leben in Breslau sehr angenehm gemacht, bis zu dem Zeitpunkt, als sich der Beginn des Krieges abzeichnete. Mein Vater hat einmal beim Mittagstisch gesagt: "Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist Krieg." Und so ist es ja dann auch gekommen.

Mein Vater hatte ja Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. Er ist ja 1917 schon eingezogen worden, also mit knapp 19 Jahren. Bei der Artillerie hat er es zum Unteroffizier gebracht. Dann war der Krieg aus, und als 1939 der nächste begann, war er schon gleich am Anfang mit dabei, ebenfalls wieder bei der Artillerie. Er wurde dort Wachtmeister und Oberwachtmeister und man hatte ihn sogar zum Stabstrompeter befördert. Er hat nie erfahren, was das ist. Wir haben sehr gelacht, als er in Heimaturlaub nach Hause kam. Auch er hat sich darüber sehr amüsiert. Er hat auch noch nie eine Trompete gehabt, aber er war Trompeter geworden. Ich weiß auch nicht, was man sich dabei gedacht hat. Es war halt eine Position, die es dort gegeben hat.

Mitte 1940 wurde er unversehrt und vorzeitig vom Militär entlassen. Ich kann nicht sagen, warum man ihn entlassen hat. Gesundheitliche Gründe kann ich mir eigentlich nicht denken, denn ich habe meinen Vater nie krank erlebt. Er muß wohl u.k. - unabkömmlich - gestellt worden sein, weil im Zusammenhang mit seiner beruflichen Betätigung innerhalb der Siedlungsgesellschaft Leute gebraucht wurden. Ich kann wirklich nicht sagen, was los war.

In dieser Zeit nach der Entlassung aus dem Soldatendasein, begannen eigentlich seine wirklichen Aktivitäten im Widerstand. Ich kann mich erinnern, daß er abends fast in den Radio-Apparat hineingekrochen ist, um BBC London zu hören. Poch, poch, poch...poch, das war das Signal, mit dem sich BBC London gemeldet hat. Sie konnten ja keine Trompetenmusik machen, denn das war ein verbotener Sender. Wer beim Hören erwischt wurde, kam ins KZ.

Wir wußten damals, daß der im Oberstock wohnende Mieter ein Polizeimann war. Wir haben immer ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihm gehabt. Was wir nicht wußten war, daß er tatsächlich Mitglied der Gestapo war. Der Mann hat aber mit Sicherheit mit der Verhaftung unseres Vaters nichts zu tun gehabt. Er ist wohl, als man meinen Vater abgeholt hat, in Breslau in der Wettigen Straße, dabei gewesen, aber er hat sich quasi bei meiner Mutter dafür entschuldigt. Auch ein Zeichen dafür, daß es meinem Vater wohl gelungen war, diesen Mann für sich einzunehmen.

Als Vaters Tätigkeit im Widerstand begann, haben wir nichts davon mitbekommen. Ich weiß nur, wir sind zu Familienzusammenkünften eingeladen worden. Wir sind dann mit Mann und Maus dahin, und im Laufe des Nachmittags/Spätnachmittags waren auf einmal die Männer verschwunden. Die Frauen und Kinder waren dann unter sich. Heute nehme ich an, daß es da also konspirative Treffs gegeben hat. Aber wir haben von diesen Dingen, das muß ich sagen, sehr wenig mitbekommen; denn es war wohl auch sehr riskant für meinen Vater, sich uns gegenüber zu äußern. Inwieweit meine Mutter eingeweiht war? Nach dem Verhältnis, das ich Ihnen zu Beginn geschildert habe, bin ich überzeugt, daß meine Mutter wußte, um was es ging. Jedenfalls war in diesen Jahren dann, es war 1940/41, der Frohsinn in der Familie, die Fröhlichkeit, das Familienglück dahin. Aus dieser Zeit stammt auch das Foto. Und wenn Sie sich das Foto anschauen, dann sehen Sie, das ist kein fröhlicher Mensch, das ist einer, der unter der Last einer großen Verantwortung leidet, einer, der sich bewußt ist, daß hier etwas läuft, was ihn das Leben kosten kann; daß hier etwas läuft, was dazu führt, oder dazu führen kann, das seine Familie ohne ihn auskommen muß.

Was meinen Vater dazu bewogen hat, im Widerstand mitzumachen? Ich habe es wohl angesprochen: Sein Gerechtigkeitssinn, die Tatsache - die Schulkinder haben es sehr schön dargestellt - der Unfreiheit der Meinung. Etwas, was ihm kolossal gegen die Natur ging, war die antichristliche Einstellung, die ja nachher zu regelrechten Auswüchsen führte, die Ungerechtigkeit, die vor allen Dingen auch im Zusammenhang mit den Juden praktiziert wurde. All dieses sind Dinge, die Auslöser waren, sich in der Widerstandsbewegung zu aktivieren.

Dazu gehört natürlich der Mut, so etwas zu tun. Ganz bewußt sein Leben zu riskieren für die Ideale, die ich vorhin angesprochen habe. Und das ist es ja, denn ich muß sagen, ich habe meinen Vater nie als Helden erlebt. Denken Sie an die Szene an der Ostsee. Ein Held, der wäre da volle Kraft voraus reingesprungen, er war vorsichtig.

Seine Entscheidung, sich im Widerstand gegen Hitler und das Naziregime zu engagieren, war eine Entscheidung, die mit Sicherheit seiner eigentlichen Mentalität widersprach. Aber das ist wahrer Heldenmut: Angst zu haben und es trotzdem zu tun. Das ist das Entscheidende.

Walter mit Gitarre
Walter trägt eines der Lieblingslieder seines Vaters vor.
 
M

eine Damen und Herren, ich sagte, mein Vater sei ein sangesfreudiger Mensch gewesen. Und er hatte ein Lied, das er in den letzten Jahren bei allen möglichen Gelegenheiten gerne gesungen hat. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen eine Strophe dieses Liedes (Originalton) vorsinge. Ich fühle mich eigentlich so ein bißchen verpflichtet in dieser Angelegenheit. Ich bitte die Musikkenner, Nachsicht zu üben. Es geht also nicht nur um die einfache Melodie, das Entscheidende ist der Text:

"Alle Tage ist kein Sonntag,
alle Tage gibt's keinen Wein,
aber Du sollst alle Tage,
recht lieb zu mir sein.
Und wenn ich einst tot bin,
sollst Du denken an mich,
auch am Abend eh' Du einschläfst,
aber weinen sollst Du nicht."

Spüren Sie, meine Damen und Herren: Das Lied entsprach genau der seelischen Verfassung, in der mein Vater in diesen Jahren war.

Ich überlasse es Ihnen, sich damit zu beschäftigen, was er meint, wenn er sagt: "Und wenn ich einst tot bin", was er meint, wenn er sagt: "Aber weinen sollst Du nicht!" Als ich im August (Originalton)des Jahres 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, da war der erste Satz, den ich gehört habe: "Dein Vater lebt nicht mehr." Das hat mich natürlich sehr, sehr getroffen.

Am Tage vor meiner Ankunft hier in Mengerskirchen hatte meine Mutter, die aus Breslau hierher geflüchtet war, ein Schreiben bekommen: Halbformat, vom Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof Berlin, datiert vom 21. März 1945."

Ich bin, wie gesagt, im August 1945 nach Hause gekommen. Es hat also von März bis August gedauert, bis dieses Schreiben vorlag. Es war adressiert an den ältesten Bruder meines Vaters. Es heißt dort: "Auf Ihre Anfrage vom 13. März 1945 teile ich Ihnen folgendes mit: Der Geschäftsführer Franz Leuninger aus Breslau ist von dem Volksgerichtshof des Großdeutschen Reiches wegen Hoch- und Landesverrat zum Tode verurteilt worden. Das Urteil ist am 1. März 1945 vollstreckt worden. Die Veröffentlichung einer Todesanzeige ist unzulässig".

Was ist nun das Bedeutsame an der Entscheidung meines Vaters, sich am aktiven Widerstand zu betätigen? Ich meine, daß er sich selbst überwunden hat, daß er seinen Prinzipien treu geblieben ist, bis zum bitteren Ende. Das ist das eine. Das andere ist für mich - vielleicht sehe ich es etwas zu hoch - der politisch-historische Aspekt. Er und seine Gesinnungsfreunde (Originalton) haben durch ihre Handlungsweise das deutsche Volk davor bewahrt, generell als Nazis verurteilt zu werden. So gesehen, waren er und seine Freunde im Widerstand ein kleines Rädchen in der Geschichte des deutschen Volkes. Und wir alle, die wir jetzt hier sitzen und einen Bezug zu ihm haben - ob als Schüler oder Kollegen der Franz-Leuninger-Schule, ob als Gewerkschafter, ob als Mengerskircher Bürger oder als Angehöriger von Franz Leuninger - wir alle können stolz darauf sein, daß es ihn gegeben hat.

Dankeschön.