Ernst und Herbert Leuninger
Ernst und Herbert Leuninger im Gespräch über ihren Onkel. Sie sind Brüder und stehen beide im kirchlichen Dienst.

Erinnerungen auf heute befragt 


 

Herbert und Ernst Leuninger 


(Herbert) Ernst Leuninger und ich, wir sind die Neffen von FranzLeuninger, und wir treten an sich gerne immer zu zweit auf im Rahmen von Dialogpredigten. Aber wir haben uns überlegt, jetzt, als wir im Bayerischen Wald zusammen waren, ob wir unsere Erinnerungen auf heute bezogen, nicht auch gemeinsam vortragen sollten, und das möchten wir nun tun: 

Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler! 

Als 8jähriger habe ich in Köln ein nächtliches Gespräch belauscht, ein Gespräch meiner Eltern mit Franz Leuninger. Er war wohl nicht mehr Soldat, sondern in einer anderer Mission in Köln und berichtete aber über das, was er auf dem Polenfeldzug erlebt hatte. Ich habe in Erinnerung, wie er erzählte, Massengräber erschossener Menschen gesehen zu haben und ergänzte dann - und das werde ich wohl nie vergessen, - er habe in diesen Gräbern noch zuckende Leiber gesehen. 

Ich erinnere mich dann an einen späteren Besuch. Der Vater war inzwischen Soldat. Als die Sirene auf dem gegenüberliegenden Dach des Altersheimes Alarm gab, standen wir schnell auf, nahmen unser Notköfferchen und gingen in den Keller. Onkel Franz blieb im Bett liegen. Als dann die ersten Bomben fielen, kam auf einmal jemand leichenblaß die Treppe herunter und setzte sich zu uns. Diese Dimension des Krieges hatte er wohl bisher noch nicht kennengelernt. 

Ich erwähne diese beiden Erfahrungen, die ich gemacht habe, als Erfahrungen mit Onkel Franz, um daran die Frage zu knüpfen: Ist jetzt nach 50 Jahren vielleicht die Erfahrung, die mit einem Krieg und mit der Diktatur verbunden war, verbraucht? Gilt sein Wort nicht mehr, daß er einem seiner Brüder aus Polen geschrieben hatte: "Es gibt nichts, was einen Krieg rechtfertigt. Und es ist jedes Mittel erlaubt, das einen Krieg verhindert." Sind nach 50 Jahren die starken Gefühle und Haltungen verbraucht, die sich gegen den Krieg und gegen die Diktatur richten? Sind 50 Jahre vielleicht ein Zeitraum, nach dem die Schrecken des Krieges und der Diktatur verblassen? 


(Ernst): "Allem Anschein nach sind das Erfahrungen, die man selbst gemacht haben muß. Dinge, von denen man betroffen sein muß. Dinge, die sich nur schwierig vermitteln lassen. Und wir sind in unserer Gesellschaft in der kritischen Situation, daß die Zeitzeugen langsam wegsterben, die aus der Erfahrung der damaligen Zeit gelebt haben. Und wir sind in der Situation und danach haben wir auch den heutigen Vormittag angelegt, Erfahrungen wieder lebendig zu machen. Erfahrungen lebendig werden zu lassen, weil wir überzeugt sind, daß sie nicht nur für unser Volk, sondern weit darüber hinaus, - denken sie an das ehemalige Jugoslawien, denken Sie an Rußland, Afrika und andere Länder, ethnische Säuberung und ähnliche Dinge -, lebensnotwendig und lebenserhaltend sind. Weil wir uns an den Satz erinnern: "Wer die Vergangenheit nicht kennt, den kann's die Zukunft kosten". Und wie schnell ein Bodensatz von 15 % rechtsradikaler brauner Flut kochen kann, das haben wir vor wenigen Jahren bitter wieder erleben müssen. Gewiß, in anderen Ländern ist es sogar noch stärker, aber so wie Deutschland an der braunen Flut, hat sich noch kein anderes Volk beschmutzt. "Wer die Vergangenheit nicht kennt, den kann's die Zukunft kosten." 

 
Onkel Franz entstammte, wie wir gehört haben, und wer Mengerskirchen kennt weiß dies, aus einem ausgesprochenen katholischen Milieu. In der Nazizeit war Mengerskirchen eine Art Widerstandsnest. Die Bevölkerung des Ortes wurde von den Nazis der Umgebung als schwarze Kommunisten bezeichnet. Bei den Reichstagswahlen im November 1932 gab es, nach Einschätzung unseres Vaters, für die Nationalsozialisten hier in Mengerskirchen vielleicht das schlechteste Wahlergebnis im ganzen Reich. Dafür haben dann die Nazis in der Nacht vom 13. Juli 1933 mit einer Razzia grausam Rache genommen. 

Wir haben als Kinder nach unserer Flucht aus Köln in den Westerwald diesen Widerstand deutlich verspürt, und wir haben dies als Kinder als etwas sehr Befreiendes wahrgenommen. Aus dieser Erfahrung heraus scheint mir aber heute - und das ist eine Frage an unsere Geschichtsaufarbeitung, daß der passive Widerstand in weiten Teilen der katholischen Bevölkerung nicht nur hier und auch der passive Widerstand im, so sage ich, "niederen Klerus", in der öffentlichen Diskussion nicht ausreichend gewürdigt wurde. Ich denke aus meinem kleinen Erfahrungshorizont heraus an den Gemeindepfarrer von Köln Ehrenfeld an St. Mechtern, der eines Tages nicht mehr auf der Kanzel stand. Erst später haben wir erfahren, daß er wegen Äußerungen auf der Kanzel nach Eltville in den Rheingau verbannt war. Ich sehe noch die Durchschläge der Predigten von Bischof Galen von Münster gegen die Euthanasie in der Hand meines Vaters. Sonntags morgens frühstücke ich mit dem alten Pfarrer Homm, der eine kleine Broschüre verfaßt hat über den Kampf, den er zwischen 1933 und 1936 zusammen mit dem späteren Generalpräses des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, Willi Bokler, in Villmar gegen die Nazis geführt hat. Ich habe in meiner theologischen Ausbildung eine ganze Reihe von Ordensgeistlichen/Pallottiner kennengelernt, die monatelang in Gestapogefängnissen oder sogar im KZ waren. 

Der in Hofheim verstorbene Prälat Hans Seidenather wurde als Gefängnisseelsorger in Frankfurt entlassen, weil er sich in einer Jugendstunde gegen die Verleumdung von Priestern gewandt hatte. Ich weiß von Pfarrern, die die Enzyklika Papst Pius XI. (1937) "mit brennender Sorge", in der der Nationalsozialismus verurteilt wurde, dadurch vor dem Zugriff der Gestapo bewahren wollten, daß sie eines der beiden ihnen zugegangenen Exemplare im Tabernakel versteckten. Ich denke an den alten Pfarrer Spitzhorn von Mengerskirchen, der verbotenerweise für die französischen Kriegsgefangenen, die den Frauen und alten Männern bei der Ernte helfen mußten, die Heilige Messe las. Heute ist ein Pfarrer hier anwesend, der nur durch die Intervention höchster Polizeistellen vor dem KZ bewahrt wurde (Pfarrer Ferdinand Eckert). 


Die geheime Staatspolizei hat nach dem Frankreichfeldzug festgestellt, Blitzfeldzug, wo alles highlife war, wo zweifelnde Militärs auf einmal meinten: "Es ist doch die große Stunde Deutschlands", daß das defätistische Reden in Deutschland vorbei sei. Da gäb's nur zwei Gruppierungen, da lief das noch, nämlich in den Kirchen. Uns war damals eigentlich ganz klar, die Nächsten sind die Jesuiten und dann die Katholiken und dann die bekennende Kirche und so geht das weiter. Das paßt nicht. Ein Jesus, ein Religionsstifter der nicht Arier ist, der paßt nicht in die Landschaft, der stört die deutsche Identität. Es wurde ja sogar versucht, einen Arier aus Jesus zu machen, weil David blaue Augen gehabt hatte. Das ist alles ernsthaft versucht worden und die Kirchen waren sich klar darüber, die Nächsten, die dran sind, sind die Kirchen. Sie sind nicht brauchbar in dieser Landschaft. Und für mich ist das überraschend, daß eigentlich auch gerade die Männer des Widerstandes aus den Kirchen und die Männer des Widerstandes aus den Gewerkschaften bisher nicht in dem Maße die historische Würdigung erfahren haben, wie man das meinen sollte. Ich vermute, es liegt sehr stark daran, daß die Denkmäler im positiven Sinne, andere waren ja nicht zu setzen, sehr schnell nach 1945 gesetzt worden sind, und in der Regel von Angehörigen, die Wissenschaftler waren. Und da konnten sicher natürlich aus dem Bereich des Adels und des Militärs, die sehr engagiert waren auch in diesen Bereichen, mehr Denkmäler gesetzt werden. Die Institutionen, wie Kirchen und Gewerkschaften, hatten damals mit anderen Sorgen zu kämpfen, die hätten vielleicht noch ein Stück mehr tun können, um für ihre Leute Denkmäler zu setzen. Ich hoffe, daß die Seligsprechung von Domprobst Lichtenberg ein erster Schritt auch in die Richtung ist, daß die Kirche einmal anfängt, diese Leute, die als Christen aufgetreten sind, die aber auch zum Teil den Mut hatten zu sagen: "Ein Diktator muß beseitigt werden", so akzeptiert, daß sie selbst damit leben kann, daß das im gewissen Sinne doch auch Märtyrer des Gewissens gewesen sind. Da könnte der Domprobst Lichtenberg ein erster Schritt sein für alle, die damals in diesem Widerstand gestanden haben. 

 
Ich habe in den vergangenen Wochen an Gedenkveranstaltungen zur Befreiung des KZ Auschwitz in Frankfurt teilgenommen, so an der Lesung zweier Überlebender dieses KZ. Ich war zu einem Gedenkkonzert in der Frankfurter Oper und habe auch auf den dringenden Rat einer amerikanischen jüdischen Journalistin, die hier in Deutschland lebt, einen Film gesehen über zwei israelische Familien, die noch in der zweiten Generation nicht mit den entsetzlichen Erinnerungen fertig werden können, die sich aus der totalen Vernichtung ihrer Familien ergeben haben. Die Erschütterungen, die für mich mit solchem Gedenken verbunden sind, kann ich - das möchte ich heute morgen sagen - nur bestehen, weil ich in der Familie Franz Leuninger habe, meine Eltern und weil ich auch die tapferen Menschen von Mengerskirchen kennengelernt habe. Ich weiß, daß das eine Gnade ist. Biblisch gesprochen heißt das, es ist mir geschenkt; ich habe mir das nicht verdient. Ich habe auch deswegen keinen unmittelbaren Grund stolz zu sein. Ich bin aber sehr, sehr dankbar. Gnade ist nicht nur etwas Unverdientes, sondern Gnade ist auch eine Kraft, und die habe ich persönlich immer wieder verspürt, gerade in den Auseinandersetzungen um die Verteidigungen eines Menschenrechtes, in diesem Falle des Menschenrechts auf Asyl. Ich habe diese Kraft gespürt, auch da wo ich mich von dem katholischen Milieu, ja sogar von meiner Kirche, verraten und verlassen fühlte. 


Für mich bedeuten Leute wie Franz Leuninger eine ganz wichtige Frage meiner persönlichen Identität, meiner Einbindung in mein Volk, in das Land in das ich gehöre, in mein Verständnis von Menschen. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie es war um diese Zeit im März herum, als die Amis von Elsoff rüberkamen. Ich habe als 12jähriger mit einer weißen Fahne, mit der uns unsere Mutter ausgestattet hat, aber mit dem Hinweis, diese erst zu zeigen, wenn die Amerikaner sich zeigten - vorher hätte das ja noch lebensgefährlich sein können - da gestanden und gewunken. Da stand ein Mann hinter mir und sagte: "Schämst Du Dich denn nicht?" und das ist das Problem. Ich habe die Amerikaner als Befreier erlebt, weil ich sehr viel aus Erzählungen wußte und weil wir in den nächsten Wochen und Monaten ja Dinge erfahren mußten, die unfaßbar waren. "Schämst Du Dich denn nicht?" Ich hab mich bis in den Boden geschämt Deutscher zu sein. Ich habe die Amerikaner als Befreier begrüßt. Ich habe lange gebraucht, bis ich über solche Männer und Frauen des Widerstandes gespürt habe, es gab da noch ein anderes Deutschland. Dieses Bewußtsein, es gibt da noch ein anderes Deutschland und auch in den schlimmsten Zeiten, das hat mich in die Lage versetzt, einen neuen Zugang zu Deutschland zu gewinnen. Man muß sich das bei einem Zwölfjährigen mal vorstellen, was das heißt, was wir mitmachen mußten. Was heißt das denn "Deutschland?" Was bringt das für einen Jugendlichen in der Phase der Identitätsbildung an Schwierigkeiten? Diese Männer haben mir geholfen, einen Weg zu finden, und deshalb möchte ich auch eigentlich nie vergessen, wie die auf Menschenwürde, wie die auf Gewissen, wie die auf Freiheit, wie die auf Demokratie, Einheitsgewerkschaften und alle diese Dinge gesetzt haben. Das ist so ungeheuer wichtig, weil das der Schatz gewesen ist, den diese Menschen mir aus ihrem zerbrechlichen aber kostbaren Schatz mir gegeben haben. 

 
Du möchtest aber künftig noch untersuchen, welche Rolle eigentlich Franz Leuninger im Widerstand gespielt hat? Wir haben bisher darüber, das hat ja auch Walter gesagt, eigentlich naturgemäß, sehr wenig Informationen. Aber ich habe den Eindruck, daß Du an dieser Stelle eine Theorie hast, die Franz Leuninger in das Innere des inneren Widerstandes hineinstellen würde. 


Wir müssen zwei große Richtungen des Widerstandes sehen. Schlesien wird normalerweise dem (Moltke) Kreisauer-Kreis, christlicher Widerstand zugerechnet. Da hat Franz Leuninger nicht zugehört. Er hat zum politisch-militärischen Widerstand gehört. Er hat zu den Leuten gehört, die von den Gewerkschaften und von links zu diesem stießen. Er kam vom Zentrum her. Er war dann von der heutigen Sprache her ein linker Katholik und hat darüber oft in seiner Partei Auseinandersetzungen gehabt. Das hat er auch in einer Gewerkschaftszeitung geschrieben. Dieser Widerstand war dann verzahnt mit dem ehemaligen Generaloberst Beck, der die Heeresleitung abgegeben hatte, weil er alle Offiziere aufgerufen hatte zurückzutreten, wegen diesem Mann Hitler mit seinen Blutrauschgefühlen. Beck mußte dann in den Ruhestand gehen. Er war der militärische Kopf des Widerstandes. Leider war er dann nicht mehr aktiv und dadurch sind manche Dinge anders gelaufen. Auf der anderen Seite stand eher ein konservativer Politiker wie Karl Gördeler, der Oberbürgermeister aus Leipzig. Daß Franz Leuninger zum inneren Kreis gehört hat beweist, daß er auch an Treffen in Berlin teilgenommen hat. Der Widerstand war ja ein Reisewiderstand, so müßte man sagen. Wilhelm Leuschner ist dafür ganz typisch. Mein Onkel ist nach Köln gefahren, als Baufachmann beratend da und dorthin. Die Widerstandskämpfer haben versucht, sich immer auf Reisen zu treffen. 

Wenn vom Kreisauer Kreis die Rede ist meint man die Treffen wären in Kreisau gewesen. Der Kreis hat sich vielleicht zweimal in Kreisau getroffen. Sie waren immer unterwegs, damit man ihnen nicht auf die Spur kommen konnte. Ich möchte herausarbeiten, wie wichtig diese Form des Widerstandes, gerade aus den christlichen und gewerkschaftlichen Kreisen, nicht nur im Kreisauer Kreis, sondern auch im politisch-militärischen Widerstand gewesen ist, weil ich meine, daß der Beitrag entschieden größer ist, als er bisher in der Historie gewürdigt worden ist. Dann wurden Franz Leuninger und Fritz Voigt und andere nicht einfach so unter anderen genannt. Sie waren mittendrin. Sie waren im innersten Kreis des Widerstandes, und es ist ja auch dafür eine Bestätigung, daß der Bruder von Karl Gördeler, Fritz Gördeler, am selben Tag wie Franz Leuninger in Plötzensee in den Tod gegangen ist. 

 
Walter hat (Originalton) sehr eindrucksvoll dargestellt, daß sein Vater durch und durch Gewerkschafter war. Auch dies ist ja eine Tradition unserer Familie. Unser Vater war Gewerkschafter in Berlin und Köln, sein jüngster Bruder, unser Onkel Ernst, war Hessischer DGB-Vorsitzender. Dies war für uns beide - ich denke, das kann ich sagen - ein sehr natürlicher und sehr selbstverständlicher Zugang zu den Gewerkschaften und eigentlich auch zu sozialen Fragen. Ich möchte das auch an dieser Stelle sagen, daß ich als Sprecher von PRO ASYL, die stärkste Unterstützung von den Gewerkschaften erfahren habe, u.a. bei gemeinsamen Pressekonferenzen in Bonn, Düsseldorf und Frankfurt. Mit den Gewerkschaften zusammen konnten wir Aktionen gegen die Fremdenfeindlichkeit unternehmen. 


Ich glaube (Originalton), die Gestalten des Widerstandes, unter ihnen Franz Leuninger, haben eine Botschaft auch an uns heute. Ich möchte die Botschaft zusammenfassen, die ja letztlich auch die Botschaft unseres Grundgesetzes ist: Vor allem Staat, vor aller Macht, vor aller Wirtschaft kommt die Menschenwürde und die Freiheit des Gewissens. Diese Botschaft darf in unserem Land nie mehr vergessen werden.