Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1967


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 2. - 7. Januar 1967

Der Blick in den Spiegel
Verplante Zeit
Toleranz
Ergriffensein
Sternstunden der Menschheit
Religion: Haifisch oder Qualle?

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Der Blick in den Spiegel

Für den heutigen Morgen empfehle ich, ein wenig länger vor dem Spiegel zu verweilen, um sich dabei Gedanken von Kurt Tucholsky aus: "Der Mann am Spiegel" durch den Kopf gehen zu lassen.:

"Glatt ist dein Gesicht, sauber gewaschen und frottiert. Zeit ist darüber hinweggespült. Was in den letzten Jahren alles gewesen ist, nichts davon ist dir anzusehen - alles ist dir anzusehen. In den zwei glitzernden Pünktchen, die in der Mitte deiner Augen angebracht sind, funkt das Leben. Eigentlich sind wir ganz schön! Wie? Aber auf einmal ist die glatte Sicherheit deines gebügelten Rockes dahin, die Angst ist da... du hörst mit den Augen. Noch ist nichts zu sehen, noch seid ihr beide schön. Tief unten knistert die Angst."

Es entspricht sehr alter Überzeugung, daß Spiegel nicht nur die Linien der Vergangenheit, oder die Oberfläche der Gegenwart, sondern auch die Tiefe der Zukunft anzuzeigen vermögen. Diese Auffassung  kommt in einer spanischen Erzählung zum Ausdruck, in der drei Freunde einen Spiegel erben, auf dessen Rückseite die Worte stehen: "Wer hier hineinschaut, sieht seine Zukunft!" Sie wissen, nichts fasziniert mehr als die Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen; erinnern wir uns nur der diesbezüglichen  Silvester- und Neujahrsbräuche. Aber diese Faszination ist gepaart mit Sorge, ja mit Schrecken. So ist auch der erste der Freunde nicht in der Lage, den Blick in die Zukunft zu ertragen. Er verfällt dem Wahnsinn; man findet ihn tags darauf tot am Fuße eines Felsens. Dem zweiten ergeht es nicht viel besser, er versucht vor seiner Zukunft zu flüchten, indem er irgendwo untertaucht. Der letzte will den unheilvollen Spiegel vernichten. Bevor er ihn in tausend Stücke zersplittern läßt, schaut er doch noch einen kurzen Augenblick hinein. Die Zukunft, die er da zu sehen bekommt, veranlaßt ihn, sein Leben radikal zu ändern. Sein Nachlaß enthält die Reste des zerstörten Spiegels mit einem Zettel: "In der Barmherzigkeit Gottes steht es, das düstere Schicksal von uns abzuwenden".

Es besteht eine eigentümliche  Parallele zwischen dem ersten der drei Freunde, der sich von einem Felsen stürzt, und dem Dichter des Mannes am Spiegel. Wissen wir doch von Tucholsky, daß er - aus welchen Gründen auch immer - sich das Leben nahm.

Für die spanische Legende ist es ein riskantes Unternehmen, unverhüllt die Zukunft zu schauen, offenbart sich doch höchstens ihre menschliche Perspektive. Wer kann dies schon ertragen, ohne wahnsinnig zu werden, oder zumindest vor sich selbst fliehen zu wollen. Dennoch gibt es eine Möglichkeit, die Angst vor der Zukunft zu meistern und zwar in der Haltung des letzten der drei Männer, der sein Leben besteht im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, die ihm schließlich auf widerfährt. Dieses Vertrauen auf eine letztlich gute Wendung des persönlichen Geschicks ist das Angebot des christlichen Glaubens. Es besagt keineswegs ein leidloses, von allen Schwierigkeiten und Niederlagen freies Leben, sondern es befähigt zu einer positiven Haltung, bei der auf alles, was uns begegnet, ein verwandelndes Licht fällt.

"Jetzt sehen wir wie in einem Spiegel Rätselhaftes", schreibt der Apostel Paulus, "...Jetzt erkenne ich nur stückweise... Jetzt bleiben uns aber Glaube und Hoffnung..." (vgl. 1 Kor 13, 12f)


Verplante Zeit

Es gehört sehr viel Mut dazu vor anderen einzugestehen, man habe Zeit; denn der gute Ton erfordert es keine Zeit zu haben. Dabei sei unbestritten, daß sehr viele Menschen sehr viel zu tun haben und kaum Zeit im geläufigen Sinne erübrigen können. Ganz nebenbei sei hier nur die Frage gestellt, was das für eine unmenschliche Zeit sein muß, die so wenig Zeit haben läßt. Indes stelle ich hier nur auf den Tatbestand ab,  daß man keine Zeit haben darf, und hätte man sie, dies vor seiner Umgebung verheimlichen oder verschleiern muß; sonst besteht die Gefahr, als Faulenzer oder Zurückgebliebener eingestuft zu werden. Ein solcher Vorwurf ließe sich allenfalls mit der boshaften Bemerkung quittieren, daß jene, die vorgeben, am wenigsten Zeit zu haben, in Wirklichkeit am wenigsten leisten. Aber so massiv braucht der Gegenangriff nicht geführt zu werden, nur eine Beobachtung sei vermerkt, die "chronisch Zeitkranken" können sehr langweilige und gelangweilte Menschen sein.

Das hängt gewiß mit dem Bestreben zusammen, unter dem eingebildeten oder wirklichen Zeitdruck nicht nur den jeweiligen Tag sondern auch die Zukunft verplanen zu wollen. Ein zu seiner Zeit bekannter Berliner Bankier macht sich darüber lustig. Er konferierte mit dem Präsidenten einer großen Elektrizitätsgesellschaft. Nach zwei Stunden stellt es sich heraus, daß sie sich nochmals treffen müssen. Der Industrielle läßt deutlich spüren, wie beschäftigt er ist. Jeder Tag sei völlig belegt, ja sogar jede Stunde mit Konferenzen, Besprechungen, Vorstandssitzungen und Geschäftsreisen ausgefüllt. Jetzt sei Januar, und er könne in seinem Terminkalender vor dem 16. April keinen freien Termin entdecken. Aber der 16. April, der passe ihm, habe dann auch der Bankier Zeit? Gelangweilt von dieser Wichtigtuerei antwortet dieser in aller Ruhe: "Tut mir leid. Am 16. April muß ich zu einer Beerdigung!!"

Dieser Termin ist natürlich nur eine Fiktion. Sie macht allerdings schlagartig deutlich, wie abwegig eine Vorplanung für diesen Zeitraum und mit dieser Genauigkeit sein muß.  Oft rächt sich dieser Vorgriff auf die Zukunft, mit dem man mit Gott in Konkurrenz tritt, durch einen Nervenzusammenbruch oder etwas ähnliches. Mit einem Mal sind alle Termine vom Tisch gefegt. Welche Schwüre werden nicht von Rekonvaleszenten abgegeben, ihr Leben künftig anders zu organisieren und jeden Tag wie ein kostbares Geschenk entgegenzunehmen.

Wer seine Zukunft völlig verplant, erwartet im Grunde nichts mehr Besonderes von ihr. Und wer nichts mehr erwartet, verfällt sehr leicht der großen Langeweile. Es mag eine persönliche Geschmacksfrage sein, ob ich mit einer solchen Langeweile leben will oder nicht, für einen Christen könnte es aber eine moralische Frage sein; denn für ihn ist es unzulässig, sich mit der Langeweile oder damit abzufinden, daß er langweilig ist. Er sollte auf eine Zukunft hin leben, von der er weiß, daß sie nicht in seiner Hand ist, dafür aber voller Überraschungen steckt. Es müssen nicht die bösen Überraschungen sein, die der Zeitplaner befürchtet und auszuschalten sucht. sondern Überraschungen, die unsere Erwartungen übersteigen.  Tage, die wir als Geschenk empfinden. Der Prediger der Bibel gibt die Haltung vor: Gott, "wirkt alles trefflich zu seiner Zeit!"


Toleranz

Die religiösen Anschauungen eines anderen aufs Korn zu nehmen, bleibt immer noch ein reizvolles, wenn auch zweifelhaftes Vergnügen bei Kantinengesprächen und beim Büroplausch, erst recht, wenn man so ein "armes Würstchen" vor sich hat, das beileibe nicht in der Lage ist, auf kritische Fragen zu antworten oder gezielten Seitenhieben zu parieren. Meist kommt dem so Angegangenen nur ein Schuß angeborener Naivität zu Hilfe. Es mag wirklich eine geistige Überlegenheit  des Angreifers vorliegen; offenbart er aber auch eine menschliche Überlegenheit? Fehlt nicht neben dem Mitleid gegenüber einem unbeholfenen Zeitgenossen auch der Respekt vor einer ernstzunehmenden Sache?

Ginge es bloß um die Einhaltung der simpelsten Formen von Toleranz, so wäre nicht weiter darüber zu reden. Es erhebt sich aber die Frage, ob da, wo religiöse Überzeugungen zum Nachteil des einzelnen oder der Gemeinschaft ausschlagen, wo sie den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, ja wo sie den Fortschritt hemmen - ich erinnere nur an die heiligen Kühe in Indien - ob da nicht eine Pflicht besteht, rigoros vorzugehen, auch mit dem Seziermesser bissiger Kritik.

Vor etwa zehn Jahren, machte sich eine Gruppe von Bergsteigern unter Leitung von Charles Evans an die Erstbesteigung des Kantschindzonga  Himalaya. Aus der Entfernung muß dieser Achttausender einen überwältigenden Eindruck machen. So wird verständlich, daß die Sikkim ihn als Sitz der Götter verehren. Ihr größtes Anliegen war es, keines Menschen Fuß möge den Gipfel des heiligen Berges betreten. Sie nahmen daher Evans das Versprechen ab, die Spitze des Berges nicht zu ersteigen. Evans gab das Versprechen - und hielt es. Kurz vor dem Gipfel kehrte er mit seiner Gruppe wieder um.

Ich glaube, nur ein begeisterter Bergsteiger kann ermessen, was für ein Verzicht das für diese Männer gewesen sein muß; denn das erhebende, einmalige Gefühl - so wenigstens verstehe ich es aus meiner Froschperspektive -, einen Berg bezwungen zu haben, wofür manche sogar ihr Leben auf*s Spiel setzen, stellt sich nur beim Betreten des Gipfels ein. Die Achtung vor der religiösen Auffassung der wissenschaftlich weit unterlegenen Sikkim hat sie dieses Opfer bringen lassen. Hätten sie sich doch bemühen können, diesen braven Leuten zu erklären, wie töricht es ist, an Götter zu glauben und an die Vorstellung, sie bewohnten Bergeshöhen.

Die Bergsteiger haben darauf verzichtet, als moderne Aufklärer aufzutreten. Damit haben sie selbst auf ein großartiges Bergerlebnis verzichtet; verzichtet habe sie außerdem auf wissenschaftlich sicher höchst interessante Messungen. Und doch, so möchte ich behaupten, haben sie dem menschlichen Fortschritt einen beachtlichen Dienst erwiesen, ganz abgesehen von ihrer bergsteigerischen Leistung. Sie haben, um ein Bild zu gebrauchen, nicht die heiligen Kühe der Sikkim geschlachtet. Vielleicht kamen ihnen Zweifel, ob die im Westen gezüchtete heilige Kuh des Fortschritts bereits fortschrittlich genug ist, um sie als vollwertigen oder gar als besseren Ersatz gelten zu lassen.



Ergriffensein

Seit geraumer Zeit beschäftigen sich Zeitungen und Zeitschriften mit einem Rauschmittel, das in der Schweiz produziert, in den USA propagiert und in der ganzen Welt probiert wird. Geringe Mengen genügen, um einen Menschen in einen außerordentlichen seelischen Zustand zu versetzen. Zuerst wird er gezwungen, sein Ich unter größten seelischen Schmerzen aufzugeben; schließlich aber gelangt er in einen unbeschreiblichen Glückstaumel. Ein Atheist spricht sogar davon, er habe auf geradezu religiöse Weise den persönlichen Tod und die Wiedergeburt erfahren. Andere wiederum geben an, ihr Leben habe sich durch diese alle bisherigen Vorstellungen übersteigende Erfahrung  entschieden gebessert. Der Verfasser eines Artikels zieht sogar in diesem Zusammenhang eine Parallele zum Pfingstereignis.

Es gibt aber auch die andere Seite: Ärzte berichten von den verheerenden Folgen, die über bleibende seelische Erkrankungen schließlich zum Wahnsinn führen. Ein Journalist, der das gerade unter Studenten verbreitete Phänomen studieren wollte, und dem heimlich eine Dosis des besagten Mittels in den Wein geschüttet worden war, warnt die jungen Menschen eindringlich davor, indem er behauptet, es gehe hier um etwas, was ganz und gar unsauber, ja des Teufels sei.

Gar keine Frage, der Wunsch und die Sehnsucht, den normalen Alltag wenigstens gelegentlich hinter sich zu lassen und das Leben in seiner rätselhaften Tiefe zu erfahren, ist auch in unseren Tagen unausrottbar. Ganz deutlich ist das bei Jugendlichen spürbar, die auf ihre Weise versuchen, sich dieses Erlebnis zu verschaffen, allerdings mit Mitteln, die wie etwa ekstatisches Tanzen, zu oberflächlich, oder im Falle von Rauschgift zu verheerend wirken.

Durch die Hintertüre und mit negativen Vorzeichen sucht sich wieder etwas in unserem Leben Bahn zu brechen, das wir vermeinten entbehren zu können und das sich mit dem Wort Mystik umschreiben läßt. Wenn Sie dieses Wort hören, denken Sie unter Umständen gleich an sonderbare Ereignisse, die dem Mittelalter zugewiesen werden. Sie denken vielleicht an Visionen, Verzückungen, an himmlische Stimmen, die vernommen werden, oder ähnliches. Solches ist aber bei uns ziemlich in Mißkredit geraten und gerät noch mehr in Mißkredit, wenn es im Zusammenhang mit Drogen auftritt.

Diese Nebenerscheinungen machen aber das Wesen der Mystik nicht aus. Sie bietet dem Menschen Tieferes: Erleuchtung, Einsicht, Ergriffenheit, Einblicke in die letzten Wahrheiten. Das hätte unsere rationalistische Zeit bitter nötig. Ideen werden genug verzapft, Theorien in Überfülle aufgestellt, es fehlen aber die Menschen, die aus der Tiefe des Menschlichen heraus leben und uns ein Weniges davon vermitteln können. Nennen wir sie Seher, Propheten, Weise, und zählen wir die Dichter, die Künstler und die Heiligen dazu.

Aber vielleicht fehlen sie uns überhaupt nicht? Sie gibt es, nur wir hören sie nicht, wollen sie nicht hören und nehmen stattdessen Pillen und Pülverchen.


Sternstunden der Menschheit

Als Sternstunden der Menschheit beschreibt Stefan Zweig fünf sehr unterschiedliche Ereignisse, die sich innerhalb eines Jahrhunderts abgespielt haben. Für ihn sind es explosive Augenblicke, die der Welt und der Geschichte dramatische Form geben. So: "Die Weltminute von Waterloo"; Ein General Napoleons verursacht den Untergang der napoleonischen Ära, weil er in unbedingtem Gehorsam gegenüber seinem Kaiser weiter marschiert, wo er hätte umkehren müssen. So: "Die Reise Goethes von Karlsbad nach Eger", auf der in tiefer seelischer Not eines der ganz großen Gedichte entsteht. So: "Die Entdeckung der Goldfelder Eldorados" durch den Schweizer Johann August Sutter. Er macht sich in die Neue Welt auf und wird dort zum reichsten und gleichzeitig ärmsten Mann der Welt. Schließlich: "Der heroische Augenblick": Dostojewski fährt auf einem rumpelnden Henkerkarren seiner Hinrichtung entgegen. Angesichts des gewissen Todes hat er eine Vision, die nach der Begnadigung in letzter Minute sein weiteres dichterisches Schaffen prägt. Und zuletzt "Der Kampf um den Südpol": Kapitän Scott, der nach entsetzlichen Entbehrungen am Südpol ankommt und feststellen muß, daß schon ein anderer vor ihm diesen Punkt erreicht hat. Nach Jahrtausenden ist der Pol innerhalb von zwei Wochen zweimal gefunden worden.

Ist es Zufall, oder entspricht es dem Wesen solcher Sternstunden, wenn sie Menschen widerfahren, die sich auf den Weg gemacht haben? Jedenfalls stimmen sie in mehr als einem Zug mit der Sternstunde überein, der heute am 6. Januar gedacht und die folgendermaßen beschrieben wird: "Und der Stern, den sie im Osten erblickt hatten, wies sie vorwärts, bis er gerade über der Stelle stand, wo sich das Kind befand. Als sie den Stern sahen, überkam sie grenzenlos Freude. Sie traten in die Behausung ein und erblickten das Kind bei seiner Mutter Maria. Da fielen sie auf die Knie und beteten es an. Dann öffneten sie ihre Schätze und überreichten ihm Geschenke, Gold, Weihrauch und Myrrhe".

Die Magier, von denen hier die Rede ist, diese Gelehrten aus dem fernen Osten, sind für uns Urbilder des Menschen geworden, der aufbricht, um das Große, das Verheißene  zu suchen und zwar nicht im subalternen Gehorsam, sondern in freier Entscheidung. Vor seinem Tod schreibt Kapitän Scott im eisigen Schneetreiben an seine Frau: "Was könnte ich Dir alles von dieser Reise erzählen. Um wieviel besser war sie doch, als daheim zu sitzen in großer Bequemlichkeit." Und gerade in den Stunden der Not, wo der wegweisende Stern verschwindet, da klärt sich - so Goethe in dem erwähnten Gedicht - das menschliche Streben, um sich einem Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben. Dieses Unbekannte offenbart sich den Weisen aus dem Morgenland in Jesus Christus. Aber seine Herrlichkeit, die sich ihnen kundtut, ist eine eigenartige; sie gewinnt ihren vollen Glanz erst am Kreuz, wie es Stefan Zweig den Dichter Dostojewski ahnen lässt. "Und ihm wird klar, daß er in dieser einen Sekunde Jener Andere war, der vor tausend Jahren am Kreuz stand. Und daß er wie dieser seit jenem brennenden Todeskuß um des Leidens das Leben lieb haben muß".

So verstanden kann für den Menschen die Begegnung mit Jesus Christus zur Sternstunde werden, für die er das Gold dieser Welt gern weggibt.


Religion: Haifisch oder Qualle?

Nicht alle Filme, die gedreht werden, geben die zuständigen Bewertungsstellen zur allgemeinen Vorführung frei, vielleicht weil man grobe Mißverständnisse befürchtet, bzw. große Einseitigkeiten bemängelt. Solch ein Film, der nur in entsprechenden Film- oder Diskussionsclubs zu sehen ist, befaßt sich mit der Gewaltanwendung seitens der katholischen Kirche im Laufe ihrer Geschichte. Es ist erschreckend, was zu sehen, und noch erschreckender, was als offizielle Begründungen zu hören ist. Hier stellt sich die Frage, wie konnte man im Namen Christi so weit gehen?

Zweifellos ist die Zeit der Inquisition und Ketzerverbrennungen vorbei, und wir werden ihr nicht nachtrauern. Mag ein Schatten von Entschuldigung insofern auf sie fallen, als sie bestimmt war von einem hohen Respekt vor der Wahrheit und dem Anspruch Christi. Auf ihre Weise legte sie seine Worte aus: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut." Oder: "Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert".

Wenn wir aus diesen oder ähnlichen Stellen nicht mehr das Recht auf Verfolgung und Hinrichtung ableiten, so wird doch deutlich, daß in diesen Wort ein Ernst enthalten ist, der sich mit dem Verständnis von Christentum und Kirche, wie wir es heute erleben, kaum verträgt. "Es ist wahr", sagt der Philosoph Eduard von Hartmann, "die Religion ist kein Haifisch, wie die Inquisitoren meinten; aber sie ist auch keine Qualle; ein Haifisch kann doch wenigstens fürchterlich sein, ein Qualle ist immer nur wabblig".

Weder Haifisch noch Qualle, was denn? Ich erinnere mich an ein Gespräch über die Frage, was wohl mit Christus geschehen wäre, wenn er in seiner kompromißlosen Art heut gelebt hätte. Es wurde die nicht unbegründete Vermutung geäußert,  daß ihm ein gleiches Schicksal beschieden gewesen wäre wir damals; in Ländern mit Todesstrafe würde man ihn hinrichten, in Staaten ohne Todesstrafe auf andere Weise mundtot machen. durch Rufmord oder Entmündigung vielleicht. Denn mit dem, was er den Menschen abverlangt, steht er genauso quer zum heutigen Leben wie damals.

Wenn es aber Christus so ergangen ist, darf sich ein Christ, der ihm folgt, nicht wundern, wenn ihm ähnliches widerfährt. Er kommt also niemals in die Versuchung, für andere Scheiterhaufen zu errichten, sondern hat sich bereit zu halten, selbst im wörtlichen oder übertragenen Sinn den Scheiterhaufen zu besteigen. Oder ist das zuviel behauptet. Versuche es einer, mit dem erforderlichen Ernst Christus zum Vorbild zu nehmen. Im gleichen Augenblick wird man ihn zum Narren stempeln: "Wie kann man nur so töricht sein?!" Übrigens hat sich der Apostel Paulus nicht davor gescheut, als Narr bezeichnet zu werden. Er hat es als Ehrentitel aufgefaßt: "Wir werden für Narren in Christus gehalten", schreibt er.