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Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1969


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 13. -18. Oktober 1969

Kampf der Physiognomien
Gottes- und Nächstenliebe
Wochentage - Arbeitstage?
Der katholische Holländer
Weg-Schenk-Fest
Kirchensteuer und Freiwilligkeit

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Kampf der Physiognomien

Als sich der „Prager Frühling" nur erst schwach abzeichnete, gab ein tschechoslowakischer Dichter - es ist wohl nicht opportun seinen Namen zu nennen - ein Interview über seinen autobiographischen Roman. Dabei erwähnte er eine Zusammenstellung verschiedener Fotografien, die er in einer kommunistischen Zeitung Italiens gefunden hatte. Auf der einen Seite waren die Fotos von Menschen, die in Schauprozessen verurteilt worden waren, auf der anderen Seite waren jene abgebildet, die das Urteil gesprochen hatten. Es sei von den Gesichtern her eindeutig gewesen, wer wen umbringen mußte, selbst wenn die Zeitung nichts darüber geschrieben hätte.

Dem fügt der Dichter noch ein Erlebnis hinzu, das er Jahre zuvor in einem Ministerium gehabt hatte. „Eine Tür nach der anderen habe ich dort aufgemacht und nicht einmal ausnahmsweise habe ich dort ein einziges Gesicht entdeckt, das wie von selbst einnehmend wirkte, einen weisen, erfahrenen, gebildeten und sensiblen Menschen verraten hätte. Nein, immer nur die gleichen Physiognomien: diese wohlgenährten Typen, deren Gesichter die Ausdruckslosigkeit von Hinterteilen haben, mit vorzüglichen Gebissen und keinerlei Falten auf den mäßig entwickelten Stirnen." Er findet es unverständlich, dass Macht immer wieder von Menschen dieser Art ausgeübt wird und meint schließlich, daß man wohl die Geschichte als einen Kampf zweierlei Physiognomien bezeichnen könnte.

Wer erinnert sich hier nicht der Bilder, auf denen die Leidensgeschichte Christi dargestellt wird. Jesus ist umgeben von denen, die ihn verraten, gefangen nehmen, um seinen Tod schreien, ihn foltern und schließlich kreuzigen. Auch hier wüsste man, hätten die Künstler den Heiligenschein weggelassen, allein von den Gesichtern her, wer das Opfer und wer die Henker sind.

Überblickt man diese Darstellungen über die Jahrhunderte hin, ergeben sie eine überwältigende Illustration für die Ansicht des kommunistischen Dichters, dass die geschichtliche Auseinandersetzung als ein Kampf der Gesichter angesehen werden kann; denn im Grunde spiegelt sich im Schicksal Christi das Geschick der Menschen wider. Dabei scheint es unwiderruflich zu sein, dass die Fratzen den Sieg über das menschliche Angesicht davontragen.

Die Menschen werden aber nicht mit einer Fratze geboren, sondern mit einem Antlitz, das im Laufe des Lebens seine Prägung erhält. Zwar kann niemand für seine Nase verantwortlich gemacht werden, wohl aber für sein Gesicht. Die Beamten des Ministeriums haben nicht deswegen ausdruckslose Gesichter, weil sie damit geboren worden wären, sondern weil sie sich in der Diktatur des Ausdrucks ihrer Persönlichkeit begeben haben.

Gesichter verändern sich manchmal flüchtig, manchmal bleibend. Ein Mensch sieht morgens anders aus als abends. Jede Aufregung aber auch die Entspannung zeigen sich in seinem Gesicht. Es gewinnt einen gütigen oder einen harten Ausdruck, je nachdem in welcher seelischen Verfassung der Mensch ist. Verändert sich diese Verfassung, verändert sich auch der Gesichtsausdruck. Gesichtszüge die sich nicht verändern, verraten eine Grundhaltung. Wie sollte sich da nicht an den Gesichtern einer ganzen Beamtenschaft die Teuflischkeit eines Systems widerspiegeln? Trotz des Gesagten ist es nicht einfach ein Gesicht zu deuten, zumal wir uns zu gern mit der Oberfläche bescheiden.

Das wird offenbar an den Worten Tolstois, wenn er das Gesicht einer Frau beschreibt: „Wirklich, ihre Augen…. waren so schön, dass häufig trotz der allgemeinen Unschönheit des Gesichtes diese Augen anziehender wirkten als wirkliche Schönheit." „Aber", so fährt Tolstoi fort, „sie sah niemals den schönen Ausdruck ihrer Augen, den Ausdruck, den sie annahmen in Augenblicken, da sie nicht an sich selbst dachte."

Die letzten Worte zeigen, wann ein Gesicht fasziniert. Wer im Kampf der Physiognomien auf der rechten Seite stehen will, muss immer wieder diese Momente der Selbstvergessenheit kennen.


 

Gottes- und Nächstenliebe

Ein amerikanischer Soziologe hat vier christliche Gemeinden daraufhin untersucht, wie es dort um das Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe bestellt sei. Die Ergebnisse seiner Arbeit legte er bei einer einschlägigen Konferenz in Rom vor. Er will festgestellt haben, daß diejenigen Christen, die am stärksten ihre Liebe zu Gott beteuern, am wenigsten bereit sind, den Nächsten gegenüber Liebe zu üben. Damit scheint auf wissenschaftliche Weise die oft vorgebrachte Ansicht bestätigt, daß gerade bei treuen Gottesdienstbesuchern erschreckende Lieblosigkeit anzutreffen sei, wohingegen überzeugende Güte bei denen vorliege, die sich um Gott und Gottesdienst nicht sonderlich kümmerten.

Wir wissen natürlich, daß der Gläubige niemals vor Lieblosigkeit gefeit ist; aber daß er durch seinen Glauben hinsichtlich der Nächstenliebe geradezu gefährdet sein soll, widerspricht jeder theologischen Lehre. Schließlich hängen Gottesliebe und Nächstenliebe so eng zusammen, daß beide nicht voneinander zu trennen sind. Auf die Frage nach dem größten Gebot im Gesetz, antwortet Christus bekanntlich: "Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen... dies ist das größte und erste Gebot; das zweite ist ihm gleich", fügt er hinzu» "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mt 22, 37-40). Damit zitiert Christus nur das Alte Testament. Nach ihm hängt das ganze Gesetz und die Propheten an diesen beiden Geboten.

Wenn wir davon ausgehen dürfen, daß die Verkündigung dieser Grundsätze niemals unterlassen wurde, wird es noch unverständlicher, was der Soziologe herausgefunden hat. Allerdings befaßt er sich nur mit den Tatsachen, eine Erklärung ist von ihm nicht zu erwarten. Das gehört eher - wenn auch nicht ausschließlich – in den Bereich der Psychologen. Einer von ihnen, Alexander Mitscherlich, untersucht den Zusammenhang von mittelalterlicher Frömmigkeit und Judenpogromen. Er schreibt wörtlich: "Die Innigkeit einer Riemenschneider'schen Madonna und der totgeprügelte Jude sind nicht zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben, sondern zwei Seiten ein und derselben Kultur." Er lastet diese enge Verbindung von Frömmigkeit und Ausschreitung allerdings nicht den Liebesgeboten des Christentums an, sondern einer kirchlichen Moralauffassung, die den Menschen zu sehr unter Druck gesetzt habe. Nach ihm wurde dies dadurch erreicht, daß ethische Maßstäbe unzulässigerweise in der Vorstellung eines strafenden und lohnenden Gottes verankert wurden. Diese überstrikte Verbotsmoral führe trotz aller Appelle an Güte und Menschenfreundlichkeit zu Lieblosigkeit und Brutalität. Wenn diese in so massierter Form in Zentrum des Religiösen immer wieder aufbrechen, dann stellen sie den Bankrott der bisherigen religiösen Erziehung dar.

Um nun nicht einer einseitigen Betrachtungsweise zu verfallen, ist zu erwähnen, daß wir in der Geschichte der Kirche unübersehbar viele Beispiele dafür haben, wie aus wirklicher Gottesliebe starke und echte Nächstenliebe erwachsen ist. Wo von Gottesliebe die Rede ist und Nächstenliebe fehlt, wird Gott ja überhaupt nicht geliebt, sondern ein Götze; er muß herhalten, um Rachegelüste und Haßgefühle religiös zu verbrämen, als führe man einen heiligen Krieg gegen die Gottlosen. Immer noch gilt eher das Wort: "Wenn jemand sagt, er liebe Gott, und seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner!" (1 Joh 4,20).


Wochentage - Arbeitstage?

Die Bezeichnung für die Wochentage haben die alten Germanen von den Babyloniern übernommen. Dort wurden die sieben Tage nach den Göttern der alten Planeten, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn benannt. Einige Namen ersetzten unsere Vorfahren durch die Namen der ihnen bekannten Götter, so dass der Freitag bei uns nicht nach der Göttin Venus, sondern nach Frya, der Gemahlin Wotans, benannt ist. Der Sonntag allerdings verblieb als Tag der Sonne und der Montag als Tag des Mondes. Da die Annahme bestand, dass die Gestirne auf das Geschick der Menschenerheblichen Einfluss haben, sollte jeder Tag unter dem besonderen Schutz eines Planetengottes stehen. Auf diese Weise hoffte man, Unglückstage vermeiden zu können. Die Römer, wesentlich nüchterner, zählten die Tage einfach.

Weder den Götternamen, noch den Zahlen ist zu entnehmen, welche Bedeutung die einzelnen Tage für Handel und Wandel hatten. Das ist wesentlich anders bei den Bewohnern der Insel Samoa. Jeder Tag trägt einen Namen, aus dem seine besondere Funktion im Laufe der Woche ersichtlich wird. Der Montag heißt Tag der Ruhe und kommt damit sehr in die Nähe unseres „blauen Montags", der Dienstag nennt sich Tag des Tanzes, der Mittwoch Tag des Spieles, der Donnerstag Tag der Arbeitsvorbereitung, der Freitag Tag der Arbeit, der Samstag Tag der Andachtsvorbereitung und der Sonntag, Tag der Andacht.

Besonders auffällig an dieser Wocheneinteilung ist der Umstand, dass strenggenommen nur ein Tag für die Arbeit vorgesehen ist, während die übrigen Tage dem Tanz, dem Spiel, der Ruhe und der Andacht der Besinnung bezeichnen. Wir könnten allenfalls so differenzieren, dass wir etwa den Freitag, den Tag der Verkehrsunfälle, den Samstag, den Tag der Schwarzarbeit und den Sonntag den Tag des Ausflugs nennen. Vorläufig empfehlen sich aber noch unsere bisherigen Tagesnamen, zumal ihre astrologische Herkunft vorzüglich dem Interesse entspricht, das in unserer Zeit den Horoskopen entgegen gebracht wird.

Die Wocheneinteilung von Samoa wird erst dann eine größere Bedeutung gewinnen, wenn sich der Trend der Arbeitszeitverkürzung fortsetzt und wir immer stärker vor der Frage stehen, wie wir unsere freie Zeit mit Anstand verbringen. Die bisherigen Erfahrungen sind nicht unbedingt ermutigend. Erstens müssen wir lernen, Arbeit nicht einfach in Freizeitbetrieb übergehen zu lassen, zum anderen ist es angezeigt, wieder den Tag der Andacht, oder wem das zu fromm klingt, den Tag der Besinnung zurückzugewinnen.


Der katholische Holländer

Wer seinen Wohnsitz verlegt und bei der polizeilichen Anmeldung nicht unterlässt die Konfession anzugeben, taucht über kurz oder lang in der Kartei seines zuständigen Pfarramtes auf und zwar in der Form einer sorgsam angelegten Karte, die gegebenenfalls zur besseren Einordnung noch mit einem bunten Reiter versehen wird. In vielen Fällen hat es damit sein Bewenden. Nichts Weiteres geschieht, weder von Seiten der Gemeinde, noch von Seiten des neu Zugezogenen. Ein Christ mehr ist pfarramtlich erfaßt, er verschwindet im Friedhof der Kartothek. Handelt es sich hingegen um eine moderne Gemeinde, dann ist das Anlegen eines Karteiblattes nur der erste, unumgängliche, wenn auch unpersönliche Schritt, den das Pfarramt unternimmt.

Da nur in den seltensten Fällen ein Neuzugezogener auf den Einfall kommt, seinen Pfarrer aufzusuchen, um sich mit ihm bekannt zu machen, laufen von der Gemeinde aus verschiedene Aktionen an. Das nächste ist ein Anschreiben, in dem das neue Mitglied der Gemeinde freundlich begrüßt und zu den Veranstaltungen eingeladen wird. Welche Erfolge mit dieser Methode erzielt werden, läßt sich schwer feststellen. Erkennbare Reaktionen sind jedenfalls sehr spärlich.

Daher werden schwerere Kaliber einesetzt, um den einzelnen Christen aus seiner Reserve zu locken. Durch Besuchsdienste, die von der Gemeinde organisiert werden, sollen persönliche Kontakte aufgenommen werden. Die Krönung aller derartigen Bemühungen ist aber der Besuch des Pfarrers selbst, der sich auf den Weg macht, um an den einzelnen Wohnungstüren vorzusprechen. Er darf durchwegs einer ebenso freundlichen wie zumeist folgenlosen Aufnahme gewiß sein.

Umso überraschender war für den fortschrittlichen Pfarrer einer Großstadtgemeinde die Reaktion eines holländischen Christen. Dieser erscheint eines Tages in seinem Pfarramt und möchte den Pfarrer sprechen. Diesem gegenüber beanstandet er, dass ihm ein Begrüßungsschreiben zugegangen sei. Vor allem möchte er wissen, auf welche Weise die Gemeinde an seine Adresse gekommen ist. Der einigermaßen verblüffte Pfarrer, der auf eine derartige Reaktion nicht eingestellt war, versucht in einem Gespräch herauszufinden, warum sein gutgemeintes Begrüßungsschreiben einen derartigen Unmut verursachen kann. Der Holländer gibt zu verstehen, daß er es ablehnt, ohne Wissen und Zustimmung irgendwo, selbst auf dem Pfarramt, aktenkundig zu werden. Noch interessanter ist aber seine weitere Bemerkung: „Wenn ein Christ bereit ist, in seiner Gemeinde mitzuarbeiten, dann wartet er nicht, bis er angeschrieben wird, sondern er ergreift selbst die Initiative und stellt sich vor."

Man kann der selbstbewußten Haltung, die hinter diesen Worten steht, nicht seine Achtung versagen, auch wenn eine ganze Seelsorgsmethode dadurch ins Wanken gerät. Ein selbstbewußter Christ möchte nicht vom Pfarrer angegangen werden, sich zu engagieren. Er reagiert empfindlich darauf, wenn der Pfarrer als Hirte seinem Schaf nachgeht, um es auf die gute Weide seiner Gemeindewiese zu führen. Diese Haltung ist oft unbewußt, wirkt sich aber dahingehend aus, daß Pfarrer glauben, es seien alle, die noch das konfessionelle Etikett tragen, in irgendeiner Form in die Hürde zu bringen.

Die Entwicklung geht aber sicher einen anderen Weg und verbietet es geradezu, so viel Energie und Kraft aufzuwenden, Menschen, die im Grunde der Kirche total entfremdet sind, bei der Stange zu halten. Diesen könnten sie vielmehr dienen, wenn sie ihnen ihre Ruhe ließen, um mit denen zu arbeiten, die aus Überzeugung und in freier Entscheidung sich in einer Gemeinde für ihre Umwelt einsetzen wollen.

Wie viel Tonnen Einladungsschreiben werden wohl noch ausgetragen oder versandt, bis die Gedanken des unkonventionellen Holländers ernst genommen werden?


Weg-Schenk-Fest

Es kommt bisweilen vor, daß Menschen das Letzte wegschenken. Allerdings tun sie es aus unterschiedlichen Motiven. Die Völkerkunde weiß um eine geradezu zügellose  Freigebigkeit, die ihren Höhepunkt in Festen des Wegschenkens findet.

In einem dieser Fälle übereignet ein Stammeshäuptling einem anderen Stamm den kostbarsten Besitz. Es bleibt aber nicht bei dem einseitigen Handeln; denn durch das großzügige Verhalten der einen Seite fühlt sich die Gegenseite verpflichtet, ähnlich freigebig zu verfahren. Indes ist noch nichts damit gewonnen, wenigstens nicht in den Augen der Beteiligten, wenn Gleiches mit Gleichem zurückerstattet wird. Vielmehr ist jede Gruppe bemüht, die andere mit ihren Geschenken zu übertrumpfen. Es kommt nämlich nicht auf das Schenken an sich an, sondern auf die Überlegenheit, die sich darin bekunden will. So setzt jede Gruppe ihre Ehre darein, mehr zu opfern als die anderen.

Um sinnfällig werden zu lassen, daß hier nicht nur einigermaßen gleichwertige Güter ihren Besitzer wechseln, geht man bei diesen Bräuchen gelegentlich dazu über, Eigentum zu vernichten. so verbrennt der Häuptling etwa kostbare Decken oder er zerstört ein für den Stamm lebenswichtiges Kanu. Damit trumpft er dem Kontrahenten gegenüber auf, wieviel der eigene Stamm für seine Ehre zu opfern bereit ist. Die so Herausgeforderten können nicht umhin, als mit einer ähnlichen, womöglich sogar größeren Vernichtungsaktion zu antworten.

Mit der Bereitschaft, um der eigenen Ehre willen tief in die Tasche zu greifen, rechnen auch Pfarrer, wenn sie bei einer Sammlung für eine neue Orgel oder etwas ähnliches eine offene Liste herumgehen lassen. Der erst Blick eines solchermaßen Angegangenen gilt der Liste und dem, was der Nachbar gezeichnet hat. "Was, der ist bereit DM 500,- zu geben, dann spende ich DM 1.000,-; das bin ich meiner Position schuldig". Wer wollte noch Einwände erheben, wenn sich bei diesem Verfahren das Spendenaufkommen vielleicht verdoppelt?

Es gibt indes auch eine andere Art wegzuschenken, die christlichem Geist gemäßer zu sein scheint. Wir kennen sie aus dem Umfeld eines Franz von Assisi. Einer seiner Minderbrüder konnte es nicht mitansehen, wenn ein anderer Mensch dürftiger gekleidet war als er selbst. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verschenkte er seine  Kutte oder wenigstens die Kapuze, bis ihm dies unter heiligem Gehorsam verboten wurde. Der Bruder wußte das Gebot geschickt zu umgehen, indem er dem nächstbesten Armen den Rat gab, ihm einfach von hinten die Kutte zu entreißen. Das wolle er ohne Gegenwehr geschehen lassen. Seine Vorgesetzten trieb er schier zur Verzweiflung, zumal er nicht nur seine Kleider weggab, sondern auch Bücher, Meßgewänder und  kostbare Mäntel, wie sie Madonnenbildern umgehängt zu werden pflegten. Seine Mitbrüder, die zugestehen mußten, daß er dies um der Liebe Gottes willen tat, hielten dennoch die zulässige Grenze für überschritten. Sie ließen fortan die Sachen, die das Kloster gebrauchte, nicht mehr offen herumliegen.

Auch wenn wir geneigt sind, diese Reaktion für durchaus vernünftig zu halten, fordert auch uns das Verhalten des Bruders heraus. Es wäre für die Kirche sicher von Schaden, wenn gelegentlich das Wegschenken über sie und ihre Mitglieder käme. Aber wer will schließlich so unvernünftig handeln wie dieser franziskanische Bruder, oder auch wie die Witwe, die Christus mit höchstem Lob bedenkt, weil sie mit ihren beiden Schärflein ihren ganzen Lebensunterhalt in den Opferkasten des Tempels zu Jerusalem geworfen hatte?


Kirchensteuer und Freiwilligkeit

Bei dem Fortfall der Kirchensteuer in der bisherigen Form wollen 46% der Katholiken in der Bundesrepublik ihre Beiträge freiwillig weiter entrichten. 54% dagegen würden für diesen Fall keine Zahlungen mehr leisten. Bei den Protestanten sind es nur mehr 35%, die weiter zahlen wollen. Diese Angaben stammen von einem Marktforschungsinstitut, das in einer sogenannten Repräsentativumfrage 2000 Personen ausgesucht und interviewt hat.

Nehmen wir die Situation einmal für gegeben an, dann würde die Kirche nur noch über knapp die Hälfte bzw. ein Drittel ihrer bisherigen Einnahmen verfügen. Die Folgen für das kirchliche Leben wären einschneidend, und man kann nur allzu gut verstehen, wenn an verantwortlicher Stelle eine solche Entwicklung kaum begrüßt wird.

Es kommt hinzu, dass die ermittelten Prozentsätze der Zahlungswilligen sicher ein zu rosiges Bild abgeben, denn es ist wohl ein sehr großer Unterschied, ob ich mich bei einer unverbindlichen Umfrage beitragswillig zeige, oder ob ich wirklich einen bestimmten Betrag monatlich von meinem Konto abbuche. Erfahrungen in Ländern, in denen es keine Kirchensteuer gibt, könnten Anlass zu einer realistischeren Einschätzung sein.

Die Gründe, die für die Beibehaltung der Kirchensteuer sprechen, werden neuerdings in Aufsätzen, Annoncen und Informationsheften an die breite Öffentlichkeit gebracht. Sie reichen von den warnenden Hinweisen auf die armen Pfarrer Südamerikas, die für ihren Lebensunterhalt darauf angewiesen sind, an den Kirchtüren fromme Bildchen zu vertreiben, bis zu dem Hinweis auf die vielen karitativen Einrichtungen, die die Kirche unter hoher finanzieller Beteiligung unterhält. Ob diese und ähnliche Gründe genügen, um das System der Kirchensteuer zu rechtfertigen, wird davon abhängen, welchen Stellenwert in Zukunft im Leben der Gemeinde die Freiwilligkeit einnehmen wird. Die schlechten Erfahrungen mit der Bequemlichkeit des Menschen bringen es mit sich, dass man auch in der Kirche der Freiheit und Freiwilligkeit nicht ganz über den Weg traut und mehr oder weniger sanften Druck für geboten hält. Andererseits zeichnet sich bereits die Entwicklung ab, dass nur noch auf voller Freiwilligkeit aufgebaute Gemeinden akzeptiert werden. Dabei ist das Problem der Kirchensteuer eigentlich nur zweitrangig. Es hängt aber zusammen mit dem uralten Zwiespalt von Freiheit und Autorität, wie ihn Dostojewski in seinem Großinquisitor mit aller Schärfe herausgestellt hat.

Ein greiser Kirchenfürst führt ein Gespräch oder besser gesagt einen Monolog mit Jesus, der nach vielen Jahrhunderten wieder in unscheinbarer Gestalt unter den Menschen weilt. „Warum bist Du gekommen, uns zu stören?" So fragt der Großinquisitor, der über die Reinerhaltung der Lehre zu wachen hat. Nach anderthalb Tausend Jahren sei es der Kirche endlich gelungen, Jesu Werk zu verbessern und die Freiheit, die er gebracht hat, zu überwinden. Er macht es Christus zum Vorwurf, dass er sich damals der Freiheit des Menschen nicht bemächtigt hat, sondern deren Grenzen noch erweiterte und damit die Seele des Menschen für alle Zeiten mit neuem Leid belastete. Nichts sei für den einzelnen Menschen – wie für das ganze Menschengeschlecht – schwerer erträglich, als die Freiheit. So gäbe es für den Menschen keine quälendere Sorge, als den ausfindig zu machen, dem er so schnell wie möglich jenes kostbare Geschenk der Freiheit zurückgeben könnte. Unmerklich habe die Kirche ihren Gläubigen die Last der Freiheit abgenommen, um sie mit Autorität und Gehorsam glücklich werden zu lassen.

Das ist der Sirenengesang aller Weltbeglücker, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche. Sie halten das Risiko mit der menschlichen Freiheit für zu hoch. Bei aller guten Absicht bleibt ihnen aber eines versagt, sie können sich nicht auf Christus berufen.