Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1970


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 2. - 7. Februar 1970

Weisheit ist nicht mitteilbar
Die Anonymität der Stadt
An Wunder glauben?
Erziehung ohne Religion
Testfall Christentum
Vorstellungen von Gott

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Weisheit ist nicht mitteilbar

Grob geschätzt nimmt bei uns ein junger Mensch im Laufe seiner Schulzeit an tausend Stunden Religionsunterricht teil. Wie viel an religiösem Wissen und entsprechender Haltung könnte in dieser Zeit vermittelt werden!

In Wirklichkeit ist das Ergebnis aber deprimierend: an abfragbarem Wissen bleibt sehr wenig, und das, was hängen geblieben ist, bereitet den meisten im späteren Leben noch erhebliche Schwierigkeiten. Was aber die christliche Haltung betrifft, so sind kaum Unterschiede feststellbar gegenüber denen, die keinen Religionsunterricht genossen haben.

Die Gründe für diese Misere werden heute eingehend untersucht. Ein Grund liegt wohl darin, daß es schwer, vielleicht sogar unmöglich ist, Glauben zu lehren. Diese Ansicht vertritt Hermann Hesse in seiner indischen Dichtung „Siddhartha", die im letzten Jahr zwei Neuauflagen erlebt hat und gerade junge Menschen sehr anspricht. Siddhartha ist der Sohn eines frommen und hochgeistigen Brahmanenpriesters. Dennoch genügt ihm die gewohnte religiöse Atmosphäre zuhause nicht mehr. Trotz allem Respekt fehlen ihm die Priester und die Weisen, denen es gelungen ist, um das Tiefste nicht nur zu wissen, sondern es auch zu leben. Daher macht er sich mit seinem Freund Govinda auf die Suche nach dem Lebenssinn. Zu eben dieser Zeit verbreitet sich im ganzen Lande der Ruf Gotama Buddhas, auf den die buddhistische Religion zurückgeht. Siddhartha und sein Freund setzen alles daran ihm zu begegnen. Als sie ihn finden, sind sie tief beeindruckt, weil er ihnen wahrhaftig vorkommt bis in seine Fingerspitzen. Govinda schließt sich sogleich dem Kreis seiner Jünger an, Siddhartha nicht. Hesse lässt ihn aber ein Gespräch mit Buddha führen, indem Siddhartha ehrfürchtig einräumt, Gotama habe wohl für sich die Erlösung gefunden, auf eigenem Weg, durch eigene Gedanken und Erfahrungen. Allerdings bezweifelt er, daß Buddha diese Erfahrungen einem anderen Menschen weitergeben könne: denn Erlösung werde niemandem zuteil durch eine Lehre, weil in eine Lehre das eigentliche Geheimnis persönlicher Erfahrung nicht eingehen könne. So befürchtet Siddhartha, daß er als Jünger Buddhas nur eine trügerische Ruhe fände, indem er eine Lehre an die Stelle seines Ich setzen würde. Er fühlt sich gedrängt, allein sein Ziel zu erreichen, obwohl er weiß, daß eine bessere Lehre als die des Buddha nicht zu finden ist.

Als ihm im hohen Alter sein Jugendfreund zufällig wieder begegnet, hat er sein Ziel erreicht und ist im Frieden mit sich und der Welt. Govinda kann es nicht unterlassen, ihn zu fragen, ob er ihm nicht einige seiner gewonnenen Erkenntnisse mitteilen möchte. Darauf bedeutet ihm Siddhartha: „Weisheit ist nicht mittelbar. Weisheit, welcher ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit." Wissen hält er für mitteilbar, Weisheit nicht. Man kann sie leben, man kann von ihr getragen sein, man kann mit ihr Wunder wirken, aber lehren kann man sie nicht.

Die Christen kennen dieses Problem von Anfang an. Paulus z.B. ist immer wieder in`s Stammeln geraten, wenn er von seinen ureigensten Erfahrungen mit Christus gesprochen hat. Petrus wurde für betrunken gehalten, als er an Pfingsten seine Überzeugungen mitzuteilen versuchte. Dennoch blieben sie nicht allein wie Siddhartha, sondern vermochten viele zu überzeugen. Wenn das heute nicht mehr so recht gelingen will, fehlt es wohl weniger an den Worten; fehlt es etwa an den Erfahrungen?


Die Anonymität der Großstadt

Inserate offenbaren die Wunschvorstellungen einer Zeit. Aus einer Frankfurter Zeitung stammt folgendes Inserat, das Wohnungen anbietet: „Familiengerechtes Wohnen in einer Eigentumskomfortwohnung. Die Eigentumswohnungen liegen in der Stadt und doch in grüner Landschaft." Im letzten Satz heißt es dann bezeichnenderweise: "Sie bieten die Annehmlichkeiten großstädtischer Anonymität."

Wie es scheint, gehört die Anonymität, die man in der Stadt als Selbstverständlichkeit erwartet, zum Lebensstil des heutigen Menschen. Wer aus kleinen und mittleren Gemeinden stammt, weiß dieses Angebot unter Umständen sehr zu schätzen. Er kann oft erleben, wie wenig seine Privatsphäre respektiert wird und wie schnell das, was er tut oder unterlässt, den Gesprächsstoff nicht nur für die Nachbarschaft, sondern für die halbe Gemeinde abgibt. Dem sich zu entziehen, mag ein durchaus berechtigtes Anliegen sein, da jeder von uns das Recht auf einen persönlichen Lebensraum hat. In diesem Sinne gibt es auch das Recht auf Anonymität.

Wie sieht es aber in der Stadt aus? Dort ist die viel gepriesene und erträumte Anonymität ohne weiteres gewährleistet. Ja, es wird sogar alles getan, um sie noch zu vergrößern. Ein gutes Beispiel sind die Selbstbedienungsläden, die immer zahlreicher so eingerichtet werden, daß persönlicher Kontakt tunlichst entfällt. So angenehm und wirtschaftlich Selbstbedienungsläden auch sind, kennzeichnen sie das andere Extrem, in das wir hineinzuschliddern drohen, nämlich das der Beziehungslosigkeit. Wer allerdings vermeint, dieser Wunsch nach völliger Privatheit sei echt, fällt einer Selbsttäuschung zum Opfer; denn in Wirklichkeit besteht ein großes Unvermögen, mit anderen Menschen Kontakt herzustellen. Dieses Unvermögen wird nur als besonderer Wert kaschiert. Die Folge davon ist eine seelische und geistige Verarmung.

An dieser menschlichen Verarmung leiden besonders die christlichen Gemeinden, in denen es sehr viele beziehungsscheue Menschen gibt, die sich leider darauf noch etwas zugutehalten. Dazu das Beispiel aus einer Großstadtgemeinde: Der Pfarrer hat aufgerufen, möglichst zahlreich an einer befristeten Aufgabe in der Gemeinde mitzuhelfen. Nach einem der Sonntagsgottesdienste melden sich unter anderem eine Dame und ein Herr. Als sie ihre Straße und Hausnummer angeben, stellen sie fest, daß sie im gleichen Haus wohnen. Sie kannten sich aber weder, noch wussten sie darum, daß sie zur selben Gemeinde zählen. Dabei sind sie zu den aktiven Christen zu rechnen, denn sonst hätten sie sich sicher nicht gemeldet. Weiter ist zu beachten, daß sie vermutlich jahraus, jahrein am gleichen Gottesdienst teilnahmen.

Den beiden ist ihre gegenseitige Fremdheit nicht anzulasten. Es wurde ihnen lange genug gepredigt, für ein christliches Leben genüge zu glauben, den Gottesdienst zu besuchen und die Gebote zu halten. Mittlerweile wissen wir, daß das nicht genügt, denn Christentum bedarf der besonderen Gemeinschaft, um lebendig zu bleiben; d.h. es ist auf Dauer nicht möglich zu glauben und es ist wenig sinnvoll zum Gottesdienst zu gehen, wenn es keine Gemeinden gibt, in denen der brüderliche Kontakt eine selbstverständliche Voraussetzung ist.

Solange die übertriebene Anonymität in unseren Gemeinden nicht abgebaut wird, haben wir keine christlichen Gemeinschaften, sondern unchristliche Monstren, die auf die Dauer nicht lebensfähig sind. Der Tratsch- und Klatschkontakt, wie er in kleineren Gemeinden vorkommt, ist natürlich keine Alternative.

An Wunder glauben?

Mit dem Glauben an Wunder tun wir uns ausnehmend schwer. So fragt ein Pfarrer, nachdem er mit den Kindern in der Schule über die Wunder Jesu gesprochen hat: „Kommen auch heute noch Wunder vor?" Niemand gibt darauf eine Antwort. „Nun", sagt er zu Klaus, „nehmen wir einmal an, ein Dachdeckermeister repariert unser Kirchendach. Er fällt aus 30 Meter Höhe herunter, aber es passiert ihm nichts. Wie würdest du so etwas nennen? „Unverschämtes Glück", sagt Klaus. „Nun gut", fährt der Pfarrer geduldig fort," wenn er dann wieder hinaufstiege und wieder abstürzte, ohne dass er Schaden nimmt?" „Das wäre ein toller Zufall", meint der Junge ungerührt. „Und wenn es ein drittes Mal passiert?" will der Pfarrer wissen. „Das… wäre gelogen!" erwidert Klaus.

„Unverschämtes Glück", „toller Zufall", „Lüge", das sind die Begriffe eines Kindes für etwas, was es in seinen Erfahrungsbereich nicht einordnen kann. Naiv und entwaffnend drückt es aus, was man heute über Wunder denkt: Wunder sind im Grunde unmöglich; irgendwie muss es für alles eine natürliche Erklärung geben, selbst wenn wir sie im Augenblick noch nicht kennen. Davon abgesehen ist das, was der Pfarrer seinen jungen Zuhörern zugemutet hat, nicht wunderbar, sondern in der Wiederholung schlechtweg absurd. Dass jemand vom Dach fällt und unverletzt bleibt, warum sollte es das nicht geben? Aber ist es damit schon ein Wunder?

Vielleicht – wenigstens für den, der es selbst erlebt. Andere können es ruhig als unverschämtes Glück bezeichnen. Dieser Unterschied in der Beurteilung wird bei einer tatsächlichen Begebenheit besonders deutlich. Der Autor eines Zeitungsberichtes beschreibt ein persönliches Erlebnis, das er in Afrika gehabt hat in einem Jahr katastrophaler Trockenheit. Die Savanne ist völlig ausgedörrt, das Trinkwasser muss in Tankwagen von weither gebracht werden. Besonders hart betroffen von dem fehlenden Regen sind die Tiere. Eines Abends zucken Blitze um den Kilimandscharo, ohne dass es zum Regen kommt. Nur ein Zittern springt durch die Erde wie von einem Erdbeben.

Danach hört man ein starkes Rauschen, das nicht mehr nachlässt. Am nächsten Morgen zeigt sich, dass ganz in der Nähe eine riesige Quelle sprudelt, die mittlerweile bereits das umliegende Land überflutet hat. Von allen Seiten sind die Tiere herbei geeilt und stillen ihren brennenden Durst. Wörtlich heißt es in dem Bericht: "In der größten Not der Menschen und Tiere geschah das Wunder von Ambolesi." Der Schreiber dieser Zeilen ist nach längerer Zeit in dieses Gebiet zurückgekehrt und muss feststellen, dass die Quelle nicht, wie zu erwarten, wieder versiegt ist, sondern einen See und einen kleinen Fluss speist, an deren Ufer saftiges Gras wächst. Abschließend sagt er: "Mein Wunder lässt sich natürlich wissenschaftlich genau erklären, daran gibt es nichts zu deuteln. Aber dass es zu einem Zeitpunkt der bittersten Not geschah, gleicht einem göttlichen Zeichen. Auch daran gibt es nichts zu rütteln."

Das Wunderbare liegt hier nicht in dem Ereignis selbst, sondern in seinem Zusammentreffen mit einer großen Bedrängnis. Es wird erfahren als die unerwartete Rettung in einer ausweglosen Lage. Vermutlich ist es ein großer Unterschied, ob man ähnliches am eigenen Leibe erfährt oder nur davon hört. Im letzteren Fall ist man kaum befähigt nachzuempfinden, wie einem Menschen zumute ist, der sich urplötzlich von einem unergründlichen Sinn getragen weiß.

Wer eine Erfahrung dieser Art von vorneherein für unmöglich hält, wer also nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.


Erziehung ohne Religion

Schon seit Jahrzehnten gibt es ein Paradies antiautoritärer Erziehung. In eingeweihten Kreisen ist es bekannt unter dem Namen „Summerhill". Summerhill ist eine englische Internatsschule, in der seit den zwanziger Jahren nach modernen Grundsätzen erzogen wird. Dazu gehört, daß dem Kind jede nur erdenkliche Freiheit gelassen wird, die Autorität der Erwachsenen möglichst zurücktritt, und der Schüler ein grenzenloses Vertrauen erfährt.

Der Gründer dieser Schule, Alexander Neill, ist vom Guten in jedem Menschen zutiefst überzeugt und sieht das Ziel der Erziehung darin, daß ein Mensch glücklich ist und mit Freude arbeitet. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch niedergelegt, dem ein renommierter Verlag flugs den Titel „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" verpaßt hat. Besonders charakteristisch für Summerhill ist es, daß kein Schulzwang besteht, jedes Kind soll also selbst entscheidet, in welcher Weise es von dem angebotenen Unterricht Gebrauch macht. Der Ablauf des Internatslebens wird von Fall zu Fall auf demokratische Weise geregelt, wobei vom jüngsten Schüler bis zum Leiter der Anstalt jeder die gleiche Stimme hat.

Nur etwas fehlt an dieser Schule, es gibt keinen Religionsunterricht. Das ist ganz bewußt so, und Neill vermerkt in seinem Buch, daß er verschiedentlich nach dem Grund dafür befragt wurde. Seine Antworten gehen immer in dieselbe Richtung. Für ihn ist der Religionsunterricht eine schädliche Einrichtung, weil dem jungen Menschen damit der Gedanke der Erbsünde mitgegeben werde. Dieser Gedanke schließe den Haß auf sich selbst ein, der vom Christentum auch gepredigt werde und seiner eigenen Vorstellung vom ursprünglich Guten im Menschen zuwiderlaufe. Dabei erwähnt er eine persönliche Erfahrung aus seiner Kindheit, die er in Schottland verbracht hat. Ihm sei von frühester Jugend an immer gesagt worden, er stehe in Gefahr in die Hölle zu kommen. Mit dieser Ausprägung der christlichen Religion wisse er bei seiner Erziehungsmethode nichts mehr anzufangen. Es komme noch die allgemeine Erfahrung hinzu, daß die Religion tot sei. „Wir sperren Menschen in Gefängnisse, wir unterdrücken die Armen, wir rüsten zum Krieg."

Man wird nachdenklich, wenn man auf diese Gedanken stößt, auch wenn manches Urteil zu pauschal klingt und dabei eine allzu negative Erfahrung mit dem Christentum einfließt. Noch nachdenklicher können aber die folgenden Gedanken machen. Neill glaubt nämlich, daß eine neue Religion im Kommen ist, die Gott preist, indem sie die Menschen glücklich macht, und die es für heiliger halten wird, den Sonntagmorgen mit Schwimmen zu verbringen als mit dem Singen frommer Lieder.

"Man stelle sich vor", so schreibt er, „nur ein Zehntel der Stunden, die dem Gebet und dem Kirchenbesuch gewidmet sind, würden zu guten Taten, Handlungen der Nächstenliebe und der Hilfe verwendet." Einem Laienprediger, der Summerhill zwar herrlich, aber allzu heidnisch findet, entgegnet Neill: „Sie verbringen Ihr Leben damit, den Leuten von Seifenkisten herunter zu predigen, wie sie erlöst werden können. Sie reden von Erlösung. Wir leben sie." Und nun fährt er fort: „Nein, wir halten uns nicht bewußt an christliche Grundsätze, doch grob gesagt, ist Summerhill so ungefähr die einzige Schule in ganz England, in der die Kinder so behandelt werden, wie Christus es billigen würde."

Das wirkt wie ein Peitschenhieb, aber ist damit etwas anderes gemeint, als das was Jesus sagte: „Nicht der, der Herr, Herr sagt, wird in das Reich Gottes eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut"?


Testfall Christentum

Es ist ziemlich leicht, in angeregter Runde über Gott und die Welt zu philosophieren. Man kann die gewagtesten Theorien „verzapfen" und sich eine Weltanschauung zurechtmodeln, ohne ernsthaft beim Wort genommen zu werden. Was aber eine Überzeugung wirklich wert ist, zeigt sich erst, wenn Belastungsproben anstehen.

Einen derartigen Test beschreibt Robert Faesi in der Erzählung „Diodor". Diodor ist der glanzvolle Herrscher eines griechischen Stadtstaates, der vier der bedeutendsten Vertreter der damaligen Philosophie zu sich gebeten hat. Während sich der eine durch seine Philosophie zu beherrschter und strenger Würde verpflichtet fühlt, gibt sich sein geistiger Gegner in Barttracht, Kleidung und Manieren den Anschein regelrechter Verwahrlosung (- es hat also alles schon einmal gegeben -). Der Dritte ist ein unscheinbarer Greis, der zurückgezogen in seinem Garten einen kleinen Freundeskreis um sich versammelt hält. Weltmännisch gewandt zeigt sich der letzte, ein sogenannter Sophist.

Nachdem sie in geistreichen Wortgefechten ihre verschiedenen Standpunkte dargelegt haben, lädt sie der Herrscher zu einer Fahrt ein, die sie im Segelschiff um die Insel führen soll. Auch auf dem Schiff gehen trotz der Gewitterschwüle die geistigen Höhenflüge weiter, da jeder der Philosophen bemüht ist, seine Weltsicht vor den anderen in`s beste Licht zu rücken. Mittlerweile kommt ein rauer Wind auf, der die Wellen immer höher gehen lässt. Der Himmel verfinstert sich, so daß die Redner besorgt verstummen. Sie versuchen, sich bei dem schweren Seegang an ihren Sitzen festzuklammern. Der Kapitän meldet zu allem Schrecken noch gefährliche Klippen. Jetzt bekommen es die weisen Männer mit der Angst zu tun. Der eine von ihnen, der gerade noch keck die Götter geleugnet hatte, betet jetzt inbrünstig zu ihnen, Den anderen verlässt sein philosophischer Gleichmut, den er sonst zur Schau trägt. Mit polternden Flüchen treibt er die Seeleute an, besser zuzugreifen. Der Dritte umklammert einen von der Besatzung und verspricht ihm große Belohnung, wenn er ihn über Wasser hält. Dem vierten schließlich ersterben die schicksalsergebenen Worte beim nächsten Stoß im Munde, und er verkriecht sich in seinen Mantel. Doch bleibt ihnen der ruhmlose Untergang erspart; denn so schnell auch das Unwetter aufgekommen war, ebenso schnell verzieht es sich wieder. Der Test aber ist negativ ausgefallen.

Wir wissen um Belastungsproben, denen Menschen mit ihrer Weltanschauung und Religion ausgesetzt waren, und die sich wesentlich härter ausnahmen als die vom Dichter ersonnene. Eine unendliche Fülle von Beispielen bietet die Geschichte des Christentums, und zwar eine Fülle von Beispielen, bei denen die Probe glänzend bestanden wurde. Denken wir an den jungen Mann aus dem Jahre 302, der an einen Pfahl genagelt, noch lächeln konnte, oder an den Priester, der sich in unserem Jahrhundert an der Stelle eines anderen zum Verhungern meldet und seine Todesgefährten dazu bringt, zu singen.

Was die Kraft des christlichen Glaubens zur Bewährung anlangt, so wagt der sowjetische Schriftsteller Sinjawaski, der selbst eine lange Haft hinter sich hatte, einen Vergleich mit anderen Religionen. Er schreibt: „Im Vergleich mit anderen Religionen spielt das Christentum die Rolle des Sturmbataillons, die Rolle der Strafkompanie, die an den gefährlichsten und heißesten Frontabschnitten eingesetzt wird. Irgendwo gibt es vielleicht Artillerie, Luftwaffe, aber in das Handgemenge, in die Hölle, ist gerade dieses Bataillon Todgeweihter geworfen, das die Brücke hinter sich verbrannt, und die Schlacht in den Gräben des Gegners führt."


Vorstellungen von Gott

Auf einer Reise durch Südafrika hat der englische Dichter G. B. Shaw die kleine Erzählung geschrieben „Ein Negermädchen sucht Gott". Darin lässt er eine junge Afrikanerin, die eben erst von einer Missionarin bekehrt worden ist, auf die Suche nach dem wahren Gott gehen. Als einziger Hinweis war ihm auf den Weg mitgegeben worden; „Suche, und du wirst ihn finden!"

Zuerst trifft es auf einen vornehm aussehenden Mann mit Bart und üppigem Haarwuchs, der recht streng dreinblickt und das Mädchen anherrscht: „Knie nieder und bete mich augenblicklich an, du vermessenes Geschöpf, oder fürchte meinen Zorn." Des weiteren fordert er Brand- und Schlachtopfer, um gnädig gestimmt zu werden. Das Mädchen, das in ihm nicht Gott erkennen kann, den es sucht, will ihn mit seinem Stock erschlagen. Aber schon hat er sich in nichts aufgelöst.

Der nächste ist wieder ein älterer Herr, der vor einem Tisch mit Manuskripten sitzt und einen recht gutmütigen Eindruck macht. „Fürchte dich nicht vor mir", sagt er freundlich zu dem Mädchen, „ich bin kein grausamer, sondern ein vernünftiger Gott. Ich tue nichts Schlimmeres als debattieren. Das Mädchen nimmt ihn beim Wort und fragt, warum er die Welt mit so viel Bösem geschaffen habe. Als er darauf keine befriedigende Antwort geben kann, wendet es sich enttäuscht von ihm ab: „Ein Gott, der mir meine Fragen nicht beantworten kann, nützt mir nichts."

Bei der weiteren Suche nach Gott stößt es auf den Propheten Micha, der wütend auf den Gott schimpft, der vom Menschen Brandopfer verlangt. Sein Gott erwarte nur, daß der Mensch barmherzig und gerecht sei. „Das ist der dritte Gott", äußert das Negermädchen; aber auch er genügt ihm nicht. Genauso wenig genügen ihm die Hinweise des russischen Wissenschaftlers Pavlov, der ihm die Frage nach Gott ganz auszureden sucht und vom Leben als einer Kette von Reflexen spricht.

Wir können an dieser Stelle die Geschichte beenden, zumal Shaw es bis zum Schluß offen läßt, was es mit Gott auf sich hat. Entschieden ist er nur in seiner Kritik an den einzelnen Gottesvorstellungen, wie er sie der Bibel entnimmt. Shaw hat seine Geschichte selbst interpretiert und darauf hingewiesen, daß er sich mit seiner Erzählung sowohl von dem Gotte Noahs absetzen wollte, der sich durch Opfer gnädig stimmen lässt, als auch von dem Gotte Hiobs, der sich mit seinen Knechten um den Sinn des Bösen in der Welt herumstreiten muß. In dem Gotte des Propheten Micha sieht er allerdings eine Vergeistigung des Gottesbildes, die er als Fortschritt wertet.

Wir wundern uns nicht, wenn Shaw mit dieser Erzählung, die in den dreißiger Jahren erschien und von satirischen Seitenhieben auf das Christentum nur so strotzte, gläubige Menschen schockierte. Es liegt ein diesbezüglicher Schriftwechsel des Dichters mit einer ihm befreundeten Äbtissin vor. Darin verlangt sie, das Buch wieder zurückzuziehen und einstampfen zu lassen, weil es unerträgliche Gotteslästerungen enthalte.

Shaw verwahrt sich gegen dieses Ansinnen, indem er darauf verweist, daß diese Erzählung auf eine Inspiration, also auf eine göttliche Eingebung, zurückgehe. Diese Inspiration fasse er als Antwort auf für die Gebete, die die Nonnen des Klosters und auch die Äbtissin für ihn verrichtet hätten. Schließlich schreibt er: „Ist Ihnen nie aufgegangen, daß ich möglicherweise einen erhabeneren Gottesbegriff haben könnte und daß ich es nicht selbstverständlich hinnehme, daß Noahs Gottheit je existiert hat oder existieren könnte."

Damit hat Shaw seine geistige Verwandtschaft mit der Ordensfrau enthüllt, und die Äbtissin hat es akzeptiert. Eine ähnliche Verwandtschaft ist bisweilen auch heute  festzustellen zwischen sogenannten Gläubigen und sogenannten Ungläubigen.