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Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1969


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 10. - 15. März 1969

Vertrauen
Solidarität
Mensch und Maschine
Verantwortlich statt kontrolliert
Die sortierte Menschheit
Die Stadt Nova Huta

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Vertrauen

Was Vertrauen bewirken kann, wurde mir deutlich an einer harmlosen Begebenheit, die mir ein guter Bekannter von seinem Söhnchen erzählte. Dieser steht an der Wohnzimmertür und möchte hinaus, ist aber zu klein und kommt nicht an die Türklinke. Hilfesuchend wendet er sich an seinen Vater, der es sich auf dem Sofa bequem gemacht hat. Der Vater rät ihm: „Leg dir eine Zeitung unter, dann schaffst du es." Das Kind befolgt den gar nicht ernst gemeinten Rat, und es gelingt ihm tatsächlich die Türe zu öffnen. Das naive Vertrauen des Kindes auf seinen Vater weckte in ihm Kräfte, die es sich nicht zugetraut hatte.

Nicht wenige der medizinischen Erfolge müsse dem Vertrauen zugeschrieben werden, das der Patient dem Arzt gegenüber aufbringt. Wo dieses Vertrauen nicht vorhanden ist, nützen bisweilen die beste ärztliche Kunst und die besten und teuersten Medikamente nichts. Ist dieses große Vertrauen aber da, dann wirken andererseits auch Mittel, die aus sich heraus die eingetretene Besserung nicht hätten erreichen können. Diese Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen. Sie gründet sich auf Untersuchungen, die mit  Scheinmedikamenten gemacht wurden. Das heißt, der Patient erhielt für ein bestimmtes Leiden eine Arznei, die der Aufmachung und Verpackung nach der wirklichen Arznei glich, vom Gehalt her aber völlig bedeutlungslos war. Bei derartigen Experimenten will man in Amerika festgestellt haben, daß 40% der Patienten, denen Scheinmedikamente verabreicht wurden, auf diese Mittel genauso ansprachen, wie auf die echte Medizin. Vertrauen oder Glauben spielen also eine größere Rolle, als gemeinhin bekannt ist.

Woran mag es liegen, daß Glaube so wirksam ist? Glaube sei jetzt hier im weitesten Sinne des Wortes genommen, denn es macht für`s erste keinen Unterschied, ob der Glaube sich auf ein Medikament, auf die besonderen Kräfte eines Heilers oder Wundertäters oder letztendlich auf Gott bezieht. Was im Glauben überhaupt geschieht, lässt sich so umschreiben: Im Glauben unterwirft sich der Mensch einem höheren Willen. Damit verzichtet er darauf, seine Vorstellungen und Wünsche einfachhin durchzusetzen. Wir wissen nur zu gut, wie leicht sich der Mensch in seine Vorstellungen und Wünsche verstrickt. Die Folge dieser Verstrickung ist dann oft die Krankheit. Im Glauben lässt sich der Mensch von dieser Enge und Verstricktheit seines eigenen Lebens befreien, und die Befreiung bedeutet und bewirkt Heilung.

Wir haben große Schwierigkeiten mit den Heilungen, die als von Jesus gewirkt, berichtet werden. Wir fragen uns, sind sie möglich? Ganz abgesehen davon, daß niemand sagen kann, was auf dieser Welt möglich und unmöglich ist, sind bei Heilungswundern der Glaube und das Vertrauen auf Jesus von ausschlaggebender Bedeutung. Das wird an vielen Stellen der Schrift ausdrücklich betont. Auch hier liegt nicht immer das vor, was wir Glauben im vollen Sinne des Wortes nennen. Jedenfalls wusste sich Jesus Christus beauftragt, den Menschen aus seiner Selbstverstrickung zu holen, zeige sie sich nun in Schuld oder Krankheit. Da, wo ein Mensch ihm gegenüber Vertrauen aufbrachte, erfuhr er Heilung, entweder im Geiste oder am Leib. Das gilt auch heute noch.


Solidarität

„Wo bleibt Christus?" fragt sich in einem Roman ein französischer Arbeiterpriester, nachdem er nun schon länger in der Fabrik tätig gewesen war. Wenn er alles überdenkt, was er in dieser Zeit erlebt hat, muss er zugeben, daß Christus da ist. „In der Fabrik hat es angefangen", überlegt er, „auf einmal gab es da ein gegenseitiges Vertrauen unter den Arbeitern, gegenseitige Hilfe, Versöhnlichkeit und eine Solidarität, die sie früher nur im politischen Kampf kannten. Vor der Fabrik griff es auf Wohnungen über, auf die Elendshotels und dann auf die anderen Fabriken im Viertel…"

Gleich am Anfang fiel Pierre – so heißt der Priester – das selbstlose, brüderliche Verhalten der Arbeiter auf. „Klappt was nicht bei dir? Kommst du nicht durch? Dich haben sie entlassen? Zieh bei uns ein, wir rücken etwas zusammen…. Dein Junge ist krank? Hör mal, meine Mutter wohnt in Blois und da kenne ich auch noch einen Fernfahrer, das lässt sich schon einrichten..."

Der Roman, aus dem diese Stelle genommen ist, bemüht sich darum, ein wirklichkeitsgetreues Bild der Arbeitswelt zu entwerfen. Dennoch ist zu fragen, ob er mit dieser Schilderung nicht einem romantischen Wunschdenken erlegen ist; denn die Erfahrung spricht in dieser Beziehung eine ganz andere Sprache. Junge Pfarrer, die in Betrieben gearbeitet haben, sind nicht so optimistisch.

Einer von ihnen hatte, wie üblich kurz vor Arbeitsschluss, seinen Arbeitsplatz gefegt. Dabei hatte er gleich den Platz eines jungen Arbeitskollegen mitgesäubert. Ein anderer sah dies und meinte: „Du wirst doch für diesen jungen Kerl nicht den Dreck wegmachen, gedankt wird dir das sowieso nicht. Die Anderen werden dich höchstens noch auslachen." Auf den Einwand des Theologen, wo kommen wir hin, wenn wir alle so denken, erzählte der Kollege, wie er bei Eintritt in den Betrieb schikaniert wurde und meinte: „Du mußt sehen, daß hier im Grunde genommen einer gegen den Anderen steht und jeder seinen persönlichen Vorteil sucht." Auch in Gesprächen mit anderen Arbeitnehmern kam immer dasselbe heraus. Sie hätten das mit dem Helfen ja früher auch schon probiert, aber wenn sie Hilfe gebraucht hätten, wären sie im Stich gelassen worden. Daher wären sie auch jetzt nicht mehr so blöde.

Bei den Gesprächen wird im Grunde nicht bestritten, daß es richtig wäre, einander zu helfen. Aber es bleibt bei dieser Einsicht. Sie setzt sich kaum in die Tat um. Man darf sich nämlich nicht enttäuschen lassen und nicht mutlos werden. Man darf auch nicht vor den Verhältnissen kapitulieren, die allen nahe legen, den Profit an die oberste Stelle zu setzen. So unrealistisch ist die Vorstellung des Romans von der Solidarität der Menschen vielleicht doch nicht. Man müsste nur im Sinne „der Torheit des Kreuzes" so „dumm" sein und wie ein Christ handeln.


Mensch und Maschine

Als im Jahre 1760 in England die erste Maschine in Gang gesetzt worden war, wurden sie von der Arbeitern in Brand gesteckt. Waren sie Feinde des Fortschritts, hatten sie Angst um ihre Arbeitsplätze, fürchteten sie von der Maschine versklavt zu werden, oder sahen sie in ihr vielleicht ein dämonisches Wesen? Wir wissen es nicht. Vermutlich hat alles zusammen die englischen Arbeiter zur Zerstörung der Maschine getrieben. Obwohl damit der Siegeszug der Maschine nicht aufgehalten werden konnte, hat sie für die Menschen einen dämonischen Zug bewahrt.

Diese Dämonie wird darin gesehen, daß die Maschine den Menschen in eine neue Sklaverei gebracht habe; denn die Maschine ist dem Arbeiter nicht so zur Hand wie das Werkzeug. Die Maschine dient nicht, sondern muss bedient werden. Damit bestimmt nicht mehr der Mensch den Gang der Arbeit, sondern die Maschine. Der Arbeiter wird zu einem funktionierenden Teil an der Maschine. Als typisches Beispiel wird immer wieder das Fliessband genannt. Da ist der Mensch zu ewig gleichen Handgriffen verurteilt, die in bestimmter Zeit, vom Bandtempo diktiert, verrichtet werden müssen. Auf diese Weise kann das Letzte aus dem arbeitenden Menschen herausgeholt werden.

Es liegt auf der Hand, die Maschine als den Vampir anzusehen, der die Lebenskraft des arbeitenden Menschen aussaugt. Von daher kann man nur auf die Automation hoffen, mit der der Mensch in ein neues Verhältnis zur Technik und Maschine tritt. Wird sie den Menschen von der Sklaverei der Maschine befreien? Alles spricht dafür, denn der Automat ist eine vollselbständige Maschine, die alle Arbeitsgänge übernimmt, auch die, die bisher der Mensch zu erbringen hatte.

Diesem verbleibt nur noch die Aufgabe zu überwachen, einzustellen, notfalls zu reparieren. Erwähnt sei für diese Umstellung eine Fabrik der Schallplattenindustrie. Dort hatten bisher 250 Arbeiter unter ohrenbetäubendem Lärm und inmitten von Gestank arbeiten müssen. Dabei produzierten sie in dem 8-Stundentag nur ein Fünftel von dem, was jetzt 16 leise surrende Maschinen leisten, die von vier sauber gekleideten Aufsehern überwacht werden.

Immer mehr wird der Automat uns abnehmen, wozu wir Jahrtausende lang gezwungen waren. Es sieht so aus, als verlöre die Technik damit auch ihren dämonischen Zug. Das ist die Täuschung, denn der Automat löst nicht automatisch die Probleme, die die Maschine dem Menschen gestellt hat. Es handelt sich um die uralte Selbsttäuschung des Menschen, der die Dämonen in der Welt und in den Dingen sucht, nur nicht in sich.

Aber das ist uns von der Schrift verwehrt. Die Welt wird nicht von Dämonen regiert, auch erst recht nicht im Maschinenzeitalter. Die Verantwortung für die Welt ist dem Menschen aufgetragen. Für kurze Zeit konnte es so aussehen, als müsse der Mensch diese Verantwortung wieder an die Maschine abtreten, an die Dämonen der neuen Zeit. Aber der raffinierteste Computer bleibt nur eine Maschine, bewundernswert und banal. Bewundernswert und manchmal banal ist auch ihr Erfinder, der Mensch, nur ist er darüber hinaus auch noch verantwortlich.


Verantwortlich statt kontrolliert

Aus einer Fabrikreportage stammen folgende Sätze:
„Vor der Stempeluhr stauen sich die Massen, alle warten ungeduldig auf das endgültige Klingelzeichen…

Endlich schrillt die elektrische Klingel, die Stechkarte wird in den Schlitz gesteckt und der Hebel heruntergedrückt. Die von hinten schieben. Einer, der sich dazwischen drängt, um an der Tafel seine Stempelkarte herauszufingern, stößt mich unsanft in die Seite…. Im Strom der nach draußen drängenden Arbeiter werde ich durch einen schmalen Gang herausgeschwemmt. Vorher noch die Kontrolle am Tor. Ich drücke den automatischen Kontrollknopf und halte dem Pförtner die geöffnete Aktentasche hin. Die automatische Kontrolllampe leuchtet rot auf, ich muss in eine Kabine, hinter dem Vorhang werde ich kurz abgetastet auf eine eventuell unter der Jacke verborgene Kurbelwelle oder auf dem Körper versteckte Motorteile hin', wie mir der Mann vom Werkschutz dabei erklärt.

Die Zeitkontrolle erweist sich als unbedingt notwendig, sonst erscheinen viele zu spät an ihrer Arbeit oder beenden sie vorzeitig. Die Kontrolle der Taschen ist ebenso unabdingbar, weil sonst der halbe Betrieb ausgeräumt wird. Ganze Häuser sollen mit Materialien gebaut worden sein, die man aus dem Betrieb oder von der Baustelle mitgenommen hat. Aber das sind nicht die einzig notwendigen Kontrollen. Die Arbeit selbst muss ständig kontrolliert werden. Ist die Aufsicht weg, dann beginnt das Bummeln. So gibt es die Kontrollen bis in die Toiletten und Waschräume.

Wer für die Abschaffung der Kontrollen eintritt, und das geschieht immer häufiger, müsste auch versuchen die Menschen zu ändern. Moralische Appelle, fleißig, ehrlich und pünktlich zu sein, wie sie gern kirchlicherseits vorgetragen werden, sind zwar nicht nutzlos, können aber nicht dazu führen, daß eingangs genannte Kontrollen überflüssig werden. Der Einsatz müsste sich mehr darauf konzentrieren, die in den Betrieben bestehende Situation zu verändern. Unpünktlichkeit, Schlamperei und Unehrlichkeit blühen ja meistens da, wo am schärfsten kontrolliert und am meisten kommandiert wird. Das kann dann dahin führen, daß ein Arbeiter, wie es vorgekommen sein soll, seinen Pressluftbohrer statt auf die Karosserie auf das Band gehalten hat, sodaß das Band augenblicklich stillstand. Für das Werk bedeutete das Tausende Mark Ausfall. Der Arbeiter hatte sich eine Zigarettenpause von drei bis fünf Minuten verschafft. So verantwortungslos können Arbeitnehmer sein, nicht zuletzt deswegen, weil man ihnen kaum Verantwortung zugesteht.

Warum ist es bei den Meistern etwa anders? In der erwähnten Reportage heißt es über sie: „ Sie brauchen auch nicht zu stempeln, sie kommen oft früher und gehen meist später. Sie spüren Verantwortung in ihrer Arbeit. Offensichtlich verändert sich dadurch die Einstellung eines Menschen. Man kann allerdings nicht zur Verantwortung erziehen, man kann nur Verantwortung übertragen. Dazu gehört auf der einen Seite Mut, auf der anderen Seite Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Leider aber sind Kontrollen für alle Beteiligten bisweilen viel bequemer.


Die sortierte Menschheit

Ein anonymer Weltverbesserer hat mir vor kurzem einen Aufsatz zukommen lassen, in dem er einen ungewöhnlichen Vorschlag zur Befriedung der Welt macht. Danach liege die Wurzel allen Unglücks darin, daß die Menschen unsortiert zusammenleben, d.h. seelisch und körperlich bunt durcheinander gewürfelt existieren. Aus dieser Unterschiedlichkeit der Menschen ergäben sich dann Reibereien und Streitigkeiten. Je ähnlicher die Menschen aber physisch und psychisch seien, desto besser paßten sie zusammen. Deswegen sollte man sie sortieren. Wäre das Sortieren der Menschen nach gleichen Anlagen blitzartig zu leisten, hörte auch die Aggressivität schlagartig auf. „Die dann Sortierten", so wörtlich, „würden die seelische Übereinstimmung auch in der Liebe in vollen himmlischen Zügen genießen." Mit einem Schlag würden auch alle Armeen der Welt überflüssig. Die schwierige Aufgabe des Sortierens müßten Computeranlagen übernehmen. Der Verfasser schließt seinen Aufsatz in der Hoffnung auf die große Sortierwelle.

Eine so sortierte Menschheit wäre sicher für unsere moderne Gesellschaft von großem Nutzen. Für jede genormte Tätigkeit ließe sich leicht die Kategorie der passend genormten Arbeiter, Angestellten oder Beamten finden. Unter der Voraussetzung daß Gleiches sich wirklich mit Gleichem verträgt, würden alle Spannungen aufhören, die in den Betrieben, Unternehmen und Behörden das Arbeitsklima so beeinträchtigen. Mit der Zeit aber würde sich die Methode des Sortierens dann als altmodisch herausstellen und man ginge gleich dazu über, wie der englische Schriftsteller Aldous Huxley es beschreibt, Menschen in der Retorte mit den erforderlichen Eigenschaften zu züchten.

Für eine Fabrik, die elektrische Geräte herstellt, ist das folgendermaßen beschrieben: Die einzelnen Arbeitsgruppen sind durch griechische Buchstaben klassifiziert:

„Im Montageraum wurden die Dynamos von zwei Gruppen Gamma-Plus-Zwergen zusammengesetzt. Die beiden niedrigen Arbeitstische standen einander gegenüber. Zwischen ihnen kroch das laufende Band mit seiner Last einzelner Bestandteile. 47 Blondhaarige standen 47 Schwarzhaarigen gegenüber, 47 Stumpfnasen gegenüber 47 Hakennasen, 47 fliehende gegenüber 47 vorspringenden Kinnladen. Die montierten Maschinen wurden von 18 identischen, lockigen, gammagrünen Mädchen überprüft, von 34 dachsbeinigen Delta-Minus-Linkshändern in Verschläge verpackt und auf die wartenden Güterwagen und Lastautos von 63 blauäugigen, blonden, sommersprossigen Ypsilon-Halbidioten verladen".

Die Vision einer sortierten oder auch gezüchteten Menschheit zeigt uns, wie unmenschlich ein solches oder ein ähnliches Unterfangen ist. Klassifizierte Menschen sind gleichzeitig auch degradierte Menschen, denn sie werden nicht nach ihrer individuellen Persönlichkeit bewertet, sondern nach mehr oder weniger äußerlichen Merkmalen.

Die Verschiedenartigkeit der Menschen und die Probleme, die sie mit sich bringen, muß schon auf andere Weise bewältigt werden. Ein Modell beschreibt Paulus in der Bibel: „Da gilt nicht mehr Jude oder Grieche, nicht mehr Sklave oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau, denn ihr alle seid eins in Christus" (Gal 3,28).


Die Stadt Nova Huta

Als in Polen nach dem Ende des II. Weltkrieges die Kommunisten die Macht übernommen hatten, planten sie eine Stadt, die als Modellfall für die sozialistische Gesellschaft gelten sollte. Diese Stadt wurde nach den modernsten Gesichtspunkten geplant und mit großzügigen Parkanlagen, freundlichen Kindertagesstätten, repräsentativen Kultur- und Sportzentren ausgestattet. Es sollte wirklich eine „Neue Stadt" sein.

Daher erhielt sie den Namen: Nova Huta. In ihr sollte verwirklicht werden, was für die ganze Menschheit erstrebenswert wäre. Sorgfältig mussten die Bewohner dieser Stadt ausgewählt werden. Sie hatten ideologisch einwandfrei zu sein und durften nichts mehr von der überholten bürgerlichen Einstellung an sich tragen. Mit der neuen Stadt und ihren Bewohnern konnte unter klinisch einwandfreien Bedingungen das Experiment der neuen Gesellschaft gewagt werden. Damit stand der Traum von der vollkommenen Gemeinschaft kurz vor seiner Verwirklichung, wenigstens für einen unbegrenzten Bereich.

Nova Huta steht in einer offensichtlichen Parallele zum Neuen Jerusalem, das auf den letzten Seiten des Neuen Testamentes in den sprühenden Farben damaliger Vorstellung dargestellt wird. Die Fundamente, auf denen die Stadt gebaut ist, bestehen aus Edelsteinen, die 12 Tore sind aus Perlen, die Straße der Stadt besteht aus lauter Gold, durchsichtig wie Glas. „Aber eines sah ich nicht: einen Tempel", sagt der Seher, „denn Gott ist ihr Tempel" .

"Die Stadt bedarf keiner Sonne und keines Mondes, dass sie ihr leuchten, denn der Lichtglanz Gottes umstrahlt sie und Christus selbst ist ihr Licht… Ruhm und Herrlichkeit der Völker wird man hineintragen. Es wird aber nichts Unreines hineingehen, niemand der Böses tut, oder der der Lüge dient, niemand, der nicht im Buche des Christus verzeichnet steht, im Buche des Lebens" (vgl. Offb 21, 22ff).

In dieser Stadt leben zu dürfen, bedeutet die Erfüllung aller Sehnsucht.

Wenn der Autor dieser biblischen Texte heute leben würde, müßte er die vollkommene Stadt mit anderen Worten beschreiben. Vielleicht würde sein Neues Jerusalem viele Ähnlichkeiten mit Nova Huta aufweisen, wenigstens mit dem geplanten. Ein großer Unterschied wäre aber zwischen dem polnischen Nova Huta und dem biblischen festzustellen. Man kann es auf die Formel bringen, Nova Huta ist eine Stadt des Menschen, das Neue Jerusalem ist eine Stadt Gottes. Das heißt, die Kommunisten wollen das Paradies auf Erden mit eigenen Kräften herbeiführen, während die Christen es als Geschenk Gottes erwarten.

Dieser Unterschied muss nicht unüberbrückbar sein. Die Erwartung der Christen ist keine untätige. Im Gegenteil, sie sollten eine unermüdliche Aktivität mit den Kommunisten gemeinsam haben; denn das Nova Huta der Bibel ist eine Stadt, die Gottes Geist durch die Menschen und ihre Aktivität verwirklicht. Wenn die Kommunisten sagen, Nova Huta sei ganz die Stadt des Menschen, dann sagen die Christen, das wahre Nova Huta ist ganz die Stadt des Menschen und ganz die Stadt Gottes.